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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Arbeiter
waren oft sauberer als die Alltagskleidung einiger einheimischer Männer, die
von ihren Ehefrauen als Sorgeobjekte - Pflegefälle auf Knabenniveau -
aufgegeben worden waren.
    Die Wut
und Verzweiflung, die man auf den Straßen überall zu spüren bekam, wurde immer
bedrückender. Einige Verzweifelte, die nicht in die allgemeine Ohnmacht
verfallen wollten, suchten nach Entlastungsventilen - bis sie sie fanden und
öffneten. Eine junge Frau raste einmal aus Wut über die politische Situation
und die Feigheit ihrer Mitmenschen mit ihrem Laster in eine wartende
Menschenmenge. Es gab ein Blutbad mit einigen Toten, der Blutmenge
entsprechend, gab es auch viele Augenzeugen - und weil man auf diese so
angewiesen war, vermehrten sie sich mit der Zeit noch. Die Presseagentur
erwähnte trotz besseren Wissens nur einen »tragischen Verkehrsunfall«. Einiges
bekam man aber ganz unmittelbar mit. Mir fiel zum Beispiel auf, daß die Anzahl
der Menschen, die in der Stadt hinkten und humpelten, gestiegen war. Und wenn
es sich ergab, daß man sie in ein Gespräch verwickeln und nach dem Grund ihres
Hinkens fragen konnte, zeigten sie wütend auf die vorbeifahrenden Autos:
    - Die
Schweine fahren einem in den Kurven einfach über die Fersen.
    -
Wirklich?
    - Ja! Oder
über die Füße! Auf der Kleinseite ist es am schlimmsten. Dort, wo die
Kreuzungen durch die Seitenstraßen umfahren werden - am Üjezd zum Beispiel.
Diese Idioten kennen die Ideallinie und schneiden die Ecken einfach über die
Bordsteinkanten. Und wenn gerade eine Straßenbahn kommt, fahren sie trotzdem
weiter, auch wenn es zu eng ist. Daß sie dabei über die Füße der Leute rattern
und nicht über Pflastersteine, kriegen sie gar nicht mit.
    Bei diesen
Gesprächen gab ich vorsichtshalber nicht zu, daß ich als Lieferwagenfahrer
eines Tages auch zu den Fußplätterern gehören könnte. Bisher hatte ich in
meiner Arbeitszeit zwar noch niemanden verletzt, die Ecken, an denen man - nah
am Limit, versteht sich - brutal über die Bordsteinkanten fuhr, kannte ich
allerdings recht gut. Und nicht nur die im Zentrum, sondern auch diejenigen
außerhalb des Zuständigkeitsbereichs meiner Wohnungsbauverwaltung. Der
allgemeine Brutalisierungstrend war tatsächlich nicht mehr aufzuhalten. In der
Stadt vermehrten sich zusätzlich noch ganz anders geartete Gewalttäter. Ich
nannte sie die Rollstuhl-Desperados und empfand sie wegen ihrer
Unangreifbarkeit als besonders gefährlich. Sie steuerten ihre Gestelle ähnlich
risikoreich wie die Autofahrer - und da sie sich auf den Bürgersteigen ohne
Einschränkungen und immer mit dem Vorfahrt-Gefühl austoben durften, bewegten
sie sich auf vorprogrammiertem Crashkurs. Siefuhren manchmal einfach
schnurstracks durch die Menge, ohne Rücksicht darauf, ob sie von den Passanten
rechtzeitig gesehen werden konnten oder nicht - und sie ließen ihren
Mitmenschen kaum Zeit zu reagieren. Auf die unvermeidbaren Unfälle freuten sie
sich offenbar schon und hatten als Behinderte wenig zu befürchten. Einen von
ihnen kannte ich persönlich aus einer Kneipe. Er hatte die Stadt so satt, daß
er vorhatte, samt Rollstuhl nach Amerika auszuwandern. Und er freute sich schon
auf die Amerikaner, weil diese so freundlich lächelnde Menschen seien. Die Amis
würde er mit seinem Rollstuhl auch nicht anfahren wollen, niemals. Dort würde er
sowieso einen behindertengerechten Buick fahren.
    Aber auch
die Helfershelfer der Behinderten - wenn sie als Schieber das Sagen hatten - übernahmen
bald den neu eingeführten Fahrstil, schoben ihre Schützlinge mit so hohem Tempo
durch die Menge, daß sie besonders pechbefleckten Bewohnern der Goldenen Stadt
zusätzlich zu ihren Füßen und Fersen auch noch die Schienbeine lädierten. Wer
die Zeichen des neuen Zeitalters nicht erkannt hatte, also unaufmerksam oder
fluchtunwillig blieb, mußte mit noch schlimmeren Frontalkollisionen rechnen.
Und wenn es zu einem Zusammenprall kam, wurden die Geschädigten auch noch
abgebrüllt.
    -
Arschloch, kannst du nicht aufpassen? feuerte der aufopferungsgeile Schieber
wie aus einer abgesägten Schrotflinte. Siehst du nicht den Behinderten? Bald
bist du auch so weit, paß auf!
    Ausgerechnet
in dieser finsteren Zeit wollte die Stadtverwaltung wenigstens etwas Gutes für
die Blinden tun und ließ an vielen Ampelkreuzungen neu entwickelte
Jaulsignalgeber installieren. Das hatte zur Folge, daß das viel zu laute
Gejaule während der Grünphasen den Menschen im weiten Umkreis den Schlaf
raubte.

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