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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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einem Bolzenschneider vorbei und schnitt das
»abgemessene« Stück ab. Für die Männer stand, wie ich bald erfuhr, für jede
Trommel fest, wieviel Kabelmeter bei einer Umdrehung - bei einem sicher vor
vielen Jahren vorgenommenen Pilotversuch - abgewickelt würden. So genügte es
ihnen, nur die reine Anzahl der Umdrehungen zu zählen, um die verlangte Meterzahl
zu ermitteln. Man unterhielt sich dabei, die Trommel wurde locker und eher wie
nebenbei bewegt, und in der Regel wurde offenbar auch großzügig gezählt -
lieber zwei Umdrehungen mehr als eine zu wenig. Dabei war die Schwachstelle der
angewandten Methode niemandem aufgefallen. Niemanden kümmerte, daß die Länge
der Schlaufen mit dem abnehmenden Durchmesser der restlichen Kabelschichten
kontinuierlich abnahm.
    - Bis
jetzt hat sich darüber niemand beschwert, meinte einer. Wir machen das hier
immer so.
    - Bist du
ein Schlaumeier oder kommunistisches Arschloch? fragte ein anderer.
    Im Rahmen
meiner eigenen Arbeitsaufgaben bedrückten mich leider noch andere Dinge. Ich
mußte mich an den allgemein üblichen Betrügereien beteiligen - und diese wurden
jeden Tag und von jedem einzelnen Fahrer auch unbedingt erwartet. Ich durfte
auf keinen Fall aus der Reihe tanzen. Am Ende eines jeden Tages mußte man sich
lange Strecken und fiktive Fuhren zusammenphantasieren, auch wenn man sie an
einem einzigen Tag gar nicht hätte bewältigen können. Mit unserer Bezahlung
hatte diese Praxis überhaupt nichts zu tun. Wie ich bald mitbekam, wußte die
Buchhaltung über unser Treiben bestens Bescheid. Da wir Fahrer beim Tanken mit
Gutscheinen zahlten, allerdings viel weniger Benzin verbrauchten, als der nach
oben getriebenen Kilometerzahl entsprach, öffneten sich in mir unbekannten
Hinterzimmern Freiräume für sozialistische Privatnutzung der erwirtschafteten
Gutscheine. In die genauen Abläufe wurde ich allerdings nie eingeweiht.
    Das
obligatorische Ausfüllen des Fahrtenbuches war eine zeitraubende Arbeit, das
manuelle Manipulieren des Tachometers war außerdem unangenehm und riskant. Ich
mußte jeden Tag, bevor ich in die Garage einfuhr, irgendwo anhalten, den Tacho
ausbauen und mit einem Schraubenzieher eine Weile an einer Schraube drehen. In
der ruhigen Nebenstraße unweit des Garagenhofes sah ich oft auch die anderen
Fahrer, wie sie das gleiche taten. Als mir einmal eine Überwurfmutter, die das
ganze Tachogehäuse an der Armatur von hinten festzuhalten hatte, in einen
Hohlraum der Karosserie hineingefallen war, war ich vollkommen verzweifelt.
Einer der Fahrer war gnädig und half mir. Diese Gefahr kannte er, und er kannte
auch die Geheimnisse der Karosserie. Und da mein Auto zum Glück schon ziemlich
durchgerostet war, nahm er einen robusten Schraubenzieher in die Hand und stach
das Blech an einer Stelle einfach durch - gleich beim ersten Versuch. Ein
Hammer war dazu gar nicht nötig. Er würgte anschließend so lange im Hohlraum
der Säule, bis er eine gemütliche Öffnung ausgehebelt hatte - und holte die
feingewindige und unersetzbare Spezialmutter heraus.
    - Ein
Wunder, daß das Auto noch zusammenhält, sagte ich.
    -
Vielleicht nicht mehr lange. Ich bin mit meinem Fahrerhäuschen schon mal nach
vorn geflogen. Du darfst nicht zu stark bremsen - bremst das Ding überhaupt
noch?Zum Glück gab es noch die Wochenenden. Ich war schon seit einiger Zeit
unter die Bergsteiger gegangen und fuhr regelmäßig zu irgendwelchen
Sandsteinfelsen klettern. Was die Schwierigkeitsgrade betraf, zählte ich die
ganze Zeit zu den Anfängern - trotzdem war es nicht schwer, auf die Idee zu
kommen, in welche Richtung meine ersehnte Flucht aus Prag erfolgen könnte. Ich
wollte unbedingt so weit weg von meiner Familie wie nur möglich, wollte auch
keine Möglichkeit mehr haben, Dana zu besuchen. Ich kündigte rechtzeitig bei
meinem Betrieb, packte an einem Freitag etwas mehr Klamotten zusammen als
gewöhnlich, und als ich schon auf der Treppe war, versetzte ich meiner Mutter
den nächsten großen Stoß, der sich in die lange Serie von schweren Todeshieben
würdig einreihen konnte.
    - Ich
komme nicht wieder.
    - Was
heißt das? fragte sie.
    - Ich
bleibe in den Bergen, fahre in die Slowakei. Ich will dort in erster Linie
bergsteigen, beruhigte ich sie. Aber auch schreiben.
    - Du
willst weg vor mir, nicht wahr, Georg.
     
    mutter
anna iolanthe
    Die
folgende Frage blieb familienintern lange Zeit offen: Ist der liebe Georg
erwachsen oder doch noch ein Kind? Daran sollte auch mein

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