Faktor, Jan
Arzt,
ehemaliger Busenfreund von Tante Erna, änderte alle halbe Jahre seine
Gesichtsfarbe. Mal war er verdüstert grau, dann grünlich, ein Jahr lang sah er
ziemlich gelb aus, danach fast weiß. In meiner letzten Erinnerung ist er
bläulich. Er trug immer einen extravaganten Hut und nahm ihn auch in der
Wohnung oft nicht ab. Einmal mußte ihn Onkel ONKEL im Auto mitnehmen - ungern,
versteht sich. Sie kurvten in Onkels lautem Wartburg durch die Stadt, der
Verkehr war wie immer voller Nervosität, der Onkel bremste wutgeladen, oft erst
im letzten Moment. Er stand wegen einer wichtigen Fernsehsendung, die er nicht
verpassen wollte, unter Zeitdruck. Sein in dieser Zeit weißblasser Mitfahrer
nahm plötzlich seinen Hut ab und kotzte wortlos hinein.
- Ihr Hut!
schrie Onkel ungläubig.
- Und Ihr
Auto? sagte der Weißling und warf seinen Hut samt Inhalt noch während der Fahrt
aus dem Fenster.
Dieser
Mensch des verblassenden Farbspektrums litt angeblich an einer ominösen
Stoffwechselkrankheit, die nach und nach alle wichtigen Organe befiel - und sie
dann allerdings wieder verließ, ohne einen Schaden anzurichten. Dasbehauptete
er jedenfalls. Wegen seiner Verfärbungen nahm man bei uns allerdings an, er sei
nicht nur krank, sondern vor allem tablettenabhängig. Als Arzt konnte er sich
verschreiben, was er wollte. Zu seiner Selbstmedikation gehörten eventuell
Drogen und sicherlich auch noch experimentelle Mittel gegen seine Verfärbungen.
Vorsichtshalber ließ sich niemand von uns bei ihm behandeln. Nur meine Mutter
hatte ihn in einer Notsituation einmal aufgesucht, und er hatte ihr einen so heftigen
Pneumothorax unter die Rippen verpaßt, daß ihr die Luft weggeblieben war. Wegen
seiner verfestigten früheren Zuneigung zu Erna kam er leider regelmäßig zu uns
- gefürchtet wurde er allerdings nicht wegen seiner medizinischen
Gemeingefährlichkeit (»Immer schon zwei linke Hände gehabt...«), sondern wegen
seines Ordnungssinns bei gemeinsamen Gesprächen. Oft erst nach einer halben
Stunde eines wie immer chaotisch verlaufenden Austauschs rief er laut:
- Stop!
Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?
Und er
begann, im Schnelldurchlauf alle Sprünge des Gesprächs, die wilden
Assoziationsketten rückwärts zu verfolgen - bis er wieder beim Ausgangspunkt
ankam. Alles hatte wieder seine Ordnung, man atmete aus. Nachdem er das
allgemeine Durcheinander wieder zugelassen hatte, wußte man, daß es irgendwann
wieder ein Stop geben würde. Zu allem Unglück vertrug er es nicht, wenn bei uns
Krümel auf dem Fußboden lagen. Er sammelte sie im Umkreis seines Stuhls einzeln
auf ein Häufchen und entsorgte sie später auf einmal - inzwischen tat er es,
ohne um Erlaubnis zu bitten. Er vertrug außerdem keine Flecke an den Gläsern,
polierte sein Glas als erstes grundsätzlich nach, und wenn es noch möglich war,
putzte er wortlos auch die der anderen. Einer der Gründe, warum er sich bei uns
wohl fühlte und letztlich auch geduldet werden mußte, war, daß er auch aus
Ostrau kam - aus der Brutstadt unserer Familie. Erkonnte nicht aufhören, von
der Herrlichkeit dieser damals so reichen Industriemetropole zu schwärmen.
Niemand war zwar seiner Meinung, über seine Loblieder und seine Begeisterung
freute man sich trotzdem.
- So
reich, so sauber, so freundlich! Man hätte damals von den Bürgersteigen essen
können. Alle, auch die Arbeiter, waren reich, außerdem bekam jeder ständig
Gutscheine in die Hand gedrückt wißt ihr noch, diese Einkaufscoupons. Die
Arbeiter bekamen sie jedenfalls in den Fabriken und kauften sich überall alles,
was sie wollten. Der Handel blühte, alle waren glücklich - und die Stimmung auf
den Straßen!
-
Eigentlich stank die ganze Stadt nach faulen Eiern.
- Nein!
- Doch,
doch. Das kam von dem ganzen Schwefel aus der Kohle, die Hochöfen standen doch
mitten in der Stadt. Ich war als Kind dauernd krank, krank von dem Ruß und den
Giften.
- Das
bißchen Ruß!
- Ein
bißchen? Der Himmel war nie richtig zu sehen, von den Stahlwerken und aus den
Kokereien strömten unendlich breite Rauchwolken. Und auf dem Boden lag überall
eine dicke Dreckschicht.
- Ja, das
stimmt. Nach dem Lüften mußte man alle Möbel gleich wieder sauberwischen. In manchen
Haushalten blieb auf Dauer alles nur noch unter Tüchern verborgen, besonders
die Polstermöbel.
- Ostrau
war doch bekanntlich die dreckigste Stadt auf der ganzen Welt, traute sich die
nächste Tante zu sagen. Ich sehe das noch vor mir - der Dreck
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