Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
Vom Netzwerk:
benahm. So gesehen
schien mein Vater nur ein durchweichtes Funktionsrädchen eines gärenden Komplexes
zu sein. Immerhin aber das Kernstück dieses einbetonierten Ganzen, das räumlich
der Ausdehnung seiner Wohnung entsprach, rein äußerlich gesehen also seine
Plattenbauwohnung genannt werden konnte. Vaters Behausung war tatsächlich kein
Ding, es war ein lebendiger Organismus, monströs in seiner von Anbeginn der
Auflösung geweihten Mutationsfreude. SO WAR ES, SO WERDEN DIESE SÄTZE
STEHENBLEIBEN, SO UND NICHT ANDERS WIRD MEIN VATER DEFINIERT. Es ist mir
tatsächlich nicht möglich - und es wird mir auch im folgenden nicht möglich
sein -, meine damaligen Eindrücke etwas schlichter auszudrücken, als ich es
hier und jetzt tue.
    Der
Schmelztiegel von Vaters Wohnung war voller verwachsungsgeiler Sprößlinge und
zwang alle Einquartierten, mit der Einrichtung dieser häuslichen Hölle
irgendwann eins zu werden. Die Wohnung und ihre Einrichtung umschlangen einen
regelrecht, umklammerten jeden in Sekundenschnelle und umklebten ihn so
vollkommen, daß man als Besucher nach dem Verlassen der Wohnung Stunden
brauchte, um sich wieder freizuhäuten. Auch als Kurzzeitbesucher dieses
oberflächenagilen Betonbunkers mußte man auf der Hut sein. Man wurde in den
laufenden Verschmelzungsprozeß sofort eingebunden - bei Tageslicht ging es los,
abends und nachts hielten einen zusätzlich und tausendfach kräftige
Mikrokrallen fest. Ich, der von Sonnabend nachmittag bis Sonntag mittag
durchhalten mußte, war trotz aller Vorsicht schon nach wenigen Stunden fast
verloren, fühlte mich so gut wie machtlos. Und wenn ich meinen verbissenen
Widerstand aufgegeben hätte, wäre ich irgendwann festgezurrt worden, ich hätte
mich aus der sterbensfrohen und grenzenlos großzügigen Umarmung dieser Wohnung
nie mehr befreien können. Schon etwas Trägheit hätte gereicht, um ein Mitglied
dieser Endzeitgemeinde zu werden. Ich wäre dann, genauso wie die anderen, nur
noch mit dem eigenen Entschwinden beschäftigt gewesen. In dieser Wohnung wurde
immer schon gestorben, war mein Eindruck. Und als später alle Erwachsenen
wirklich tot waren und ich die Geschichte dieser - wie ich annahm - sich
fortpflanzenden Verwesungshingabe bei Freunden zum besten geben wollte, bekam
ich den schlimmsten Lachkrampf meines Lebens. Ich wälzte mich als erwachsener
Mensch auf einem dreckigen Fußboden und kam und kam nicht hoch. Für diesen Vorfall
gibt es zuverlässige Zeugen.
    Daß alle
drei Behausungen meines Vaters, die ich kannte, so saftig und fruchtschwer
wirkten, war natürlich kein Zufall. Die entsprechenden Keimlinge und
Zersetzungsgifte, die für diese Art BELEBUNG sorgten, mußte jedesmal mein Vater
eingeschleppt haben - so gesehen war er für sein früh anberaumtes Ableben
unmittelbar verantwortlich. Den Rest besorgten dann die befallenen und ihn
umgebenden Dinge, sie übernahmen selbst die Initiative, gaben schließlich keine
Fluchtwege frei - und weil sich mein Vater in der Wohnung wenig bewegte, ging
alles relativ schnell. Wenn die menschlichen und stofflichen Oberflächen
moribund-biotisch zueinandergefunden hatten, wenn sie einmal miteinander in
Austausch getreten waren, war die Abtötung alles lebendigen Gewebes nicht mehr
aufzuhalten. Die zunehmende Fruchtigkeit aller schwammig gewordenen Gegenstände
und deren porösen Häute begünstigten und beschleunigten den Gang der Dinge
zusätzlich. Vaters Wohnung ließ seine Bewohner sanft schmoren, garte sie wie im
Römertopf, ließ keine Dämpfe entweichen.
    Die
Probleme aller Wohnungen meines Vaters manifestierten sich beispielsweise in
Form einer ganz speziellen Geruchsmischung, die ich nie vergessen werde und die
keine Malerarbeiten auf Dauer beseitigen konnten. Aus der Perspektive der
gerade angesprochenen Moribund-Biose und -Symbiose gesehen, war es im Grunde
auch Vaters Todesgeruch. Der organische Charakter der Wohnung zeigte sich
beispielsweise in der stark klebrigen und jeden Appetit tötenden Schicht, die
überall zu ertasten war. Aus allen Oberflächenporen kam etwas Schmieriges
heraus - als ob dort alle Dinge mit hochproduktiven Drüsen übersät gewesen
wären. Die Menschen und Gegenstände dieser Wohnung schienen ihren Talg, ihre
Sekrete und Sublimate miteinander abzustimmen, sich behutsam auszutauschen und
bei dieser Produktion voneinander zu profitieren. Am Ende kam immer eine
konstante Geruchs- und Schmiere-Melange zustande. Daher änderte sich an der
filmigen Beschichtung und drüsigen

Weitere Kostenlose Bücher