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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Verfilzung der Wohnung trotz vieler wütender
Säuberungsaktionen von Vaters Frau qualitativ nie etwas. Offenbar verbündeten
sich die organischen und anorganischen Schutz- und Schmutzschichten dieser
Wohnung miteinander, schlossen untereinander - trotz der offiziellen Zusammenarbeit
mit den Menschen - heimliche Verträge ab und bildeten daher eine einheitliche
osmotische Kampffront, die eindeutig gegen ihre menschlichen Koalitionäre
gerichtet war. Überall knisterte und schmatzte es, auch die jungfräulich
abwehrstärksten Oberflächen reagierten chemisch miteinander, entluden ihre
sub-subkutane Spannung, bedrängten sich schmelzthermisch, saugten sich durch
den nebenbei erzeugten Kondensationsunterdruck aneinander. Und alle sonst egal
wie passiven Stoffe ließen sich dieses Vergnügen genausowenig nehmen und
beteiligten sich an dem allgemeinen molekularen Treiben wenigstens als
Katalysatoren. Nur die inerten Gase schauten zu und sahen, wie sich alle
Beteiligten an die Wäsche und unter die Häute gingen, sich ineinander im
Rückwärtsgang hineinfraßen und die gesamte Mensch-Ding-Wohnungsfüllung im
Eiltempo eins werden ließen. Die Spuren dieser Prozesse verdichteten sich
periodisch zu verhärteten »Baum«-Ringen, die in diesem Spezialfall von außen
nach innen zu wandern schienen - bis sie im verkrebsten Wohnungskern
steckenblieben.
    Ich hätte
im Äther von Vaters Wohnung gern nur - als wenigstens einen luftigen Haltepunkt
- den separaten Geruch vom Zigarettenrauch, von frisch destillierten
Exkrementen oder Angstschweiß in Rohform erkannt. Schweren Zigarettenrauch,
frische Scheiße und klebrigen Angstschweiß roch man dort zwar ohne Ende, bei
mir kam aber nie etwas in separater Reingestalt an - es handelte sich immer nur
um hochkomplizierte Mischformen. Das Plattenbaubad und die kleine
Plattenbautoilette hatten gar keinen Luftabzug.
    Unglücklicherweise
klebte und stank beim Vater - man wird es mir glauben müssen - auch das frisch
gespülte Geschirr. Was also die muffigen Geschirrtücher beim freudlosen
Abtrocknen des Geschirrs nicht entsorgt oder was sie - dies war auch möglich -
an Stinkdreck eben neu verteilt hatten, dampfte und sublimierte vor sich hin
und kam als unsichtbarer Angriff aus der Luft irgendwann wieder an. Alle Tassen
fühlten sich fettig an, auf dem Tee schwamm immer eine glitzernde, mit einem
netten Farbspektrum kolorierte Schicht voller Kurven, Kreise und Äuglein, und
dem schlichten Versuch, das Licht einzuschalten, folgte oft gleich wieder das
Ausschalten, weil der Finger an dem defekt-federlosen Kippschalter einfach
haftenblieb. Ich faßte nur das an, was ich unbedingt anfassen mußte, und
grübelte über das zusätzlich Gruselige, das nur seelisch Unhygienische und
ideell Eklige, möglichst nicht nach, um meine Denkqualen nicht noch zu
verstärken. Vielleicht überdehnten sich nicht nur alle tektonischen Membranen,
die dort zwischen Realität und Irrwitz lagen, vielleicht quälten sich da und
dort nicht nur osmotische Absonderungspumpen und belasteten sich durch
artesischen Druck nicht nur gegenläufige Lippendichtungen - sicher schwitzten
dort aus Solidarität auch alle anwesenden Menschenseelen. Vielleicht tropfte
ihr Unglück pausenlos aus irgendwelchen der Humanwissenschaft noch unbekannten
seelischen Tränensäcken. Vielleicht waren die in der Plattenbauwohnung
versklavten Körper bereits damit beschäftigt, vorsorglich leichengiftigen
Sauerteig zur Weitergabe an Nachgeborene anzusetzen, sich mit der Opferung der
Filetstücke ihrer eigenen lebenden Substanz dafür abzustrafen, daß sie keine
Sprache für ihre Qualen gefunden hatten.
    Ich
witterte bei meinem Vater vorsichtshalber immer nur das Schlimmste, meine
sensorischen Vorverstärker liefen dauerhaft auf Hochtouren. Und ich kam
gezwungenermaßen zu der Überzeugung, alle um meinen Vater versammelten Menschen
trügen in sich furchtbare Geheimnisse - und zwar solche, die nur mit dem Tod
gesühnt werden konnten. Und diese seien so schlimm, daß die armen
Geheimnisträger sie auch voreinander verbergen mußten, womöglich auch vor sich
selbst. Mehr als logisch wäre dann, daß der einzige Kanal nach außen, die
einzige Erleichterungsmöglichkeit, die ihnen allen zur Verfügung stand, das
stille Absondern ihres saftigen Innenfluidums war - ein Absondern in Form von
seelischem Smog. Ihnen schien am Ende doch nichts anderes übriggeblieben zu
sein, als ihre unter Hochdruck produzierten Feinzuckungen, ihren in allen
Organen

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