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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Glück nicht
so viele Baustellen wie jetzt. In mir ist so viel Kraft, das glaubt ihr nicht!
    Klaudius
war tatsächlich ein bärenhafter Kerl, den Laternenmasten zwar kurz stoppen, ihm
aber niemals Furcht einjagen konnten. Einmal sah ich ihn in unserer Gegend
allein marschieren und schloß mich ihm heimlich an. Auffällig an seiner
Erscheinung waren im Grunde nur seine dunklen Brillengläser. Ansonsten lief er
nicht langsamer als andere. Nur vor Stellen, wo der Bürgersteig zu enden
drohte, oder vor Hindernissen, denen er zu nahe kam, verlangsamte er unmerklich
und schnalzte. Auf meinem Weg nach Hause verfolgte ich ihn eine Weile.
Irgendwann sagte er:
    - Bist du
das? Ich bin gerade unterwegs zu deiner Mutter. Er streichelte mich am Kopf,
genau oberhalb meiner piepsigen Stimme - und half mir damit aus der
Verlegenheit.
    - Woran
hast du mich erkannt?

- Im
Moment läuft hier sonst niemand, der mich kennt - und in dieser Richtung ...
das konntest nur du sein. Außerdem hast du einiges von deiner Mutter geerbt. Darf
ich dein Gesicht anfassen? Warte! Mach die Augen zu, ich werde dich bis zur
Haustür führen.
    Ich gab
ihm meine Hand, im Gesicht spürte ich noch seine ungewöhnlichen Griffe. Er
faßte alles, auch unbelebte Dinge, vollkommen anders an als man selbst. Die Haltung
seiner Finger war eine andere, seine Handflächen waren bei den Berührungen
ebenfalls voll im Einsatz. Er versuchte, soviel Oberfläche, soviel an Struktur
zu fassen zu bekommen wie nur möglich.
    - Hast du
keinen Blindenstock?
    - Der
störte mich nur, ich muß beide Hände frei haben. Hörst du die Autos auf der
Straße? Es ist eine Einbahnstraße - also schon die Mickiewicz. Und links hört
man die Wand, versuche darauf zu achten, wie sich die Mauer anhört - und die
Nischen der Hauseingänge. So lese ich die Hausnummern ab, diese Straßenseite
endet mit der Nummer fünfzehn.
    - Als ich
noch kleiner war, versuchte ich auch manchmal mit geschlossenen Augen zu
laufen, wie ein Blinder eben, sagte ich.
    - Das
funktioniert aber nicht, wenn man zwei gesunde Augen hat, nicht wahr? Paß auf,
wir gehen jetzt auf den anderen Bürgersteig, ich mag die Gärten mit den
gußeisernen Zäunen, die Apfelbäume müßten schon blühen. Und wenn wir in der
Höhe der dreizehn sind, sagst du mir Bescheid - wir begrüßen dort die Büste von
Frau Garrigue Masaryk, winken ihr einfach über die Fahrbahn zu.
    - Woher
kommt dieses komische Garrigue? Sie war doch Amerikanerin.
    - Aus
Brooklyn, richtig. Ihr Vater kam aber aus Dänemark, den Namen hatte er
allerdings von seinen hugenottischen Vorfahren. Meine Freunde lesen mir dauernd
vor, alles mögliche, weißt du. Ich könnte dir darüber noch mehr erzählen. Die
Büste ist wirklich ein Unikum, vielleicht ist es der einzige Ort im Land, an
dem der Name Masaryk in aller Öffentlichkeit noch zu sehen ist. Aber jede Ecke von
Prag hat etwas Besonderes - und einen eigenen Klang, du kannst versuchen,
darauf zu achten. Mein Lieblingsfach ist Geographie, weißt du das? Ich sammle
Stadtpläne und Landkarten, beschäftige mich besonders mit Afrika, Asien und
Südamerika, Europa kenne ich schon gut genug. Außerdem sammle ich Inseln.
    - Wie das?
    - Ich will
nach und nach alle Inseln der Erde kennen, und ich kenne sie fast alle, auch
die ganz kleinen - und nicht nur dem Namen nach. Ich merke mir gleich ihre
Fläche, alle Flüsse, den jeweiligen höchsten Berg, wie viele Menschen dort
leben und so weiter. Weiß du, wann die hiesige Befestigung gebaut wurde, das
barocke Tor?
    - Nein.
    - 1721.
Aber daß euer Haus 1912 gebaut wurde, weißt du bestimmt. Vor einigen Jahren,
bevor der Putz abfiel, war die Jahreszahl noch zu sehen.
    Wir gingen
eine Weile schweigend, bis er meine Hand etwas fester drückte.
    - Der Zaun
wird bald zu Ende sein, den offenen Raum dahinter kann man hören. Und wenn eine
Querstraße abgeht, ist nach zwei, drei Schritten der Bürgersteig zu Ende. Du
hast zu früh gebremst - hast geblinzelt, nicht wahr? Vor dieser Kante müssen
wir keine Angst haben, wir müssen doch nach rechts.
    Manche der
Bewunderer meiner Mutter kamen öfter als die anderen, andere kamen plötzlich
gar nicht mehr - grüßten uns bei Zufallsbegegnungen nicht wirklich herzlich.
Und wenn sie mit ihren Gattinnen unterwegs waren, grüßten sie vorsichtshalber
gar nicht. Manche sahen dabei furchtbar traurig aus. Wenn ich an diese
Eindrücke denke, wird mir klar, daß ich so etwas wie gemeinsam auftretende,
also funktionierende Ehepaare praktisch nicht

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