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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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mehr. Der
einzige, der blieb, war der Onkel ONKEL, der eines Tages allerdings hinter
einer Wand aus Schränken verschwand. Aber aufgepaßt: Dieser astreine Tscheche -
also NichtJude par excellence - mauserte sich trotz aller seiner Schwächen und
seiner Fluchtmanöver zu einer der eindrucksvollsten männlichen Gestalten meiner
Kindheit. Allerdings erst posthum beim Schreiben dieses Textes.
    Zu seinen
Lebzeiten verbreitete Onkel ONKEL viel Angst und Schrecken - generationsübergreifend
und in der Regel wortlos. So konnten wir alle, vor allem aber ich und meine
Cousinen, fast täglich neue Varianten der Furcht erleben und die Auswirkungen
dieser Ängste auf unseren Streßhaushalt studieren. Onkel ONKEL herrschte unter
anderem mit Hilfe seiner vielen gnadenlosen Werkzeuge, die vor allem mir
persönlich viel Respekt einflößten. Wenn er gewollt hätte, hätte er uns mit
seinen Sägen, Bohrern, Zangen, Hämmern oder Meißel alle umbringen können. Er
tat aber niemandem körperlich weh, uns Kindern nicht, den übermächtigen Frauen
auch nicht. Den Anblick von Blut vertrug er sowieso nicht, bei Blutentnahmen
wurde er oft ohnmächtig. Mein Onkel war kein böser Mensch, er war vielmehr ein
handwerklich begnadeter Mann mit Vorbildqualitäten. Über seine manuellen
Großtaten beziehungsweise Übergriffe, die immer eng damit zusammenhingen, daß
er farbenblind und sein gestalterisches Gefühlsleben verkümmert war, wird noch
einiges zu berichten sein. Seine technikgeprägten Gewalttaten, die manchmal in
üble Desaster mündeten, hatten in der Regel irreversible Folgen. Daher war es
oft vollkommen egal, ob seine Schandtaten den übrigen Familienmitgliedern
schön, annehmbar, häßlich oder grundhäßlich vorkamen. Von Hause aus war Onkel
ONKEL eigentlich Pfarrer der 1920 gegründeten »Tschechoslowakischen Kirche«
(meine Definition: KATHOLIZISMUS minus PAPST plus JAN HUS). Nach dem Krieg
wurde er aber Kommunist, verließ seine Kirche und ging - wie viele junge Männer
damals - erst einmal zu dem frisch wuchernden Staatssicherheitsdienst.
    Daß er sich
eine Art Wagenburg aus Schränken gebaut hatte, war eine reine Verzweiflungstat.
Bei einer sicher nicht ganz demokratisch verlaufenden Verhandlung über die
Verteilung oder Umverteilung der Räumlichkeiten bekam er ein langgezogenes
Durchgangszimmer zugesprochen. Und weil es für ihn allein eigentlich zu groß
war, wurde er dazu verurteilt, in seinem Bereich verschiedene Wäsche-,
Kleider-, Schuhschränke und Kleinkramregale unterzubringen; außerdem einige
Truhen, Kisten und einige besonders sperrige Gegenstände - darunter mehrere
unterschiedlich lange und unterschiedlich stabile Leitern, zwei Staubsauger und
einige zusammengerollte Teppiche.
    Eines
Tages baute er dann seine Befestigungsmauer und ließ für die Allgemeinheit nur
einen schmalen Gang frei. Die Lösung war denkbar einfach: Er rückte die
Schränke von der Wand ab, so daß ihre häßlichen Rückseiten diesem neu
entstandenen Korridor zugewandt blieben. Manche der Schränke drehte er dagegen
andersherum - dabei bekam zwar er ihre Rückseiten zu sehen, konnte aber sein
Bett, seinen Schreibtisch und seinen heiligen Sekretär dort heranrücken.
Praktischer ging es gar nicht. Der neue Korridor wurde später mit Wandleuchten
bestückt, und diese konnten mit Wechselschaltern ein- und ausgeschaltet werden.
Den Eingang zu Onkels eigentlichem Innenbereich bildete ein schwerer, eine
übriggelassene Lücke füllender Vorhang, den niemand gern anfassen mochte. Wenn
die Sonne nachmittags ums Haus kam und der Onkel seine Pfeife rauchte, sah man
von ihm nur die dicken Rauchwolken oberhalb seines Bollwerks.
    Dunkel
kann ich mich noch an eine sicherlich viel zu spät anberaumte Verhandlung
erinnern, bei der es um seine eigenmächtige Zerschlagung dieses »Festsaales«
ging.
    - Und wenn
wir mal ein größeres Fest ausrichten möchten, was dann?
    Was
daraufhin geschah, prägte sich mir für immer ein. Mein Onkel war nicht dumm, er
hatte alles bedacht. Er stand auf, lehnte sich gegen einen der Schränke und
schob ihn mit Leichtigkeit an die Wand. In schneller Abfolge tat er das Gleiche
mit zwei weiteren Schränken, wir wichen den fahrenden Kolossen aus und
schwiegen. Die Gewalttätigkeit dieses massereichen Treibens war beängstigend.
Einen vierten Schrank, der an Onkels Bett stand und dessen Türen zum Gang
zeigten, drehte er auf dem glatten Parkettboden geräuschlos um hundertachtzig
Grad und schaffte ihn auch aus dem Weg. Wie wir

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