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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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nie wirklich ernst - hinter seinem Rücken sprach
man von ihm wie von einem Trottel -, trotzdem hatten auch die stärksten meiner
vielen Frauen eine Heidenangst vor ihm. Ich war ihm als Kind natürlich
hoffnungslos unterlegen. Zwischen ihm und den Frauen, die als Clique
unbesiegbar waren, gab es eine Art Waffenstillstand. Pro forma wurde jedenfalls
so etwas wie ein Gleichgewicht simuliert. Gegenüber seiner Frau Eva hatte Onkel
ONKEL allerdings gewisse, wenn auch nur beschränkte Vollmachten. Zum Beispiel
durfte er sie zwingen, sich vor die Glotze zu begeben und gemeinsam mit ihm
bestimmte Sendungen abzusitzen. Tante Eva, die nicht in der Lage war, sich von
ihm scheiden zu lassen, bewohnte ein bescheidenes Nordostzimmerchen, das sehr
weit von der Wagenburg entfernt lag. Wenn sie von ihrem Gebieter, meinem Onkel,
zu einer Fernsehsitzung gerufen wurde, kam sie, setzte sich hin und widersetzte
sich dem Terror dergestalt, daß sie sofort einschlief. Nach der Pflichtsendung
mußte sie sich noch einige Vorwürfe anhören und durfte dann wieder gehen;
manchmal wurde sie als eine Ignorantin schon während der Sendung verjagt. Und
sie las dann fleißig die halbe Nacht fremdsprachige Bücher, weil sie eine
gebildete Frau war, sieben Sprachen sprach und relativ wenig Schlaf brauchte.
    Manche
Seltsamkeiten waren für uns Kinder nicht weiter verwirrend, wir waren einiges
gewöhnt. Mit schwer verdaubaren Eindrücken und unlogischen Informationsbrocken
versorgte uns vor allem die Urtante Bombe. Urtante Bombe war in Wirklichkeit
keine Tante von mir; das »UR« war in ihrem Fall sowieso nur ironisch gemeint.
Sie wurde eher zwangsläufig zu dem, was sie war, weil sie in unserer Wohnung
schon seit dem Kriegsende wohnte - länger als ich. Ihr Status und der Grad
ihrer genetischen Assoziierung mit unserer Familie wurden nie ganz geklärt. Da
aber auch die fast verwandtschaftlichen Beziehungen bei uns schon eiserne
Verpflichtungen mit sich brachten, kam es nie in Frage, ihr Zimmer zu
beanspruchen und sie auszuquartieren. Auch während eines ihrer
Auslandsaufenthalte blieb ihr Zimmer ihr Zimmer. Schwer zu sagen, ob diese
Urtante ein Glück oder Unglück für mich war. Dank ihrer überstarken Präsenz
wußte ich lange nicht, in welcher Zeit und welchem Land ich eigentlich lebte.
Und auch nicht, in welche Richtung die Moldau floß. Oberhalb des Altstädter
Wehres stand das Wasser relativ ruhig, und die Wellen bewegten sich je nach
Windrichtung mal mit, mal gegen den Strom.
    - Fließt
das Wasser nach links oder nach rechts?
    - Siehst
du das nicht? Nach unten! sagte sie und zeigte nach oben - also in die südliche
Richtung.
    - In
Budapest war alles anders. Großzügiger, fast wie in Wien, meinte sie nach einer
Weile.
    Die von
mir etwas später angefertigten Stammbäume der beiden Familien - also unserer
und der von Urtante Bombe - berühren sich in ferner Vergangenheit an zwei
offengebliebenen Stellen; und zwar ausgerechnet in Budapest, wo seit dem Krieg
nur noch einige kontaktscheue Reste der Familie festsaßen. Von diesen
ignoranten Menschen, die sich - das ist kürzlich bei einer Nachfrage mein
Eindruck gewesen - längst schon als ungarische Nationalisten fühlen und reine
Sozialneid-Antisemiten geworden sind, wird man leider nichts mehr erfahren
können. Die Urtante kam als »displaced person« nach Prag, und ihre
Zugehörigkeit zu uns gründete sich sowieso nicht auf irgendwelchen
verwandtschaftlichen Klarheiten. Sie war vor dem Krieg die Geliebte eines
Anwalts gewesen, der ein Arbeitskollege meines noch vor dem Krieg verstorbenen
Großvaters war. Nach dem Krieg versuchte Urtante Bombe bei anderen Verwandten
in der Deutschen Demokratischen Republik unterzukommen, kehrte aber bald wieder
zurück und wirkte etwas verwirrt. Und war noch kommunistischer geworden. Als
ich sie später einmal nach den Möglichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung
ausfragte, Fernsehprogramme aus der Bundesrepublik zu empfangen, sagte sie
resolut:
    - Aber das
tut man nicht, das tut man einfach nicht.
    Auf alten
Fotos haben meine vielen Tanten trotz ihrer Unterschiedlichkeit oft einen
ähnlichen Gesichtsausdruck: sie sehen etwas vorsichtig in die Ferne und lächeln
dabei leicht. Urtante Bombe bildet hier eine absolute Ausnahme. Ihre
aufgerissenen Augen sind immer voller Schreck - wie vor einer jederzeit zu
befürchtenden Bombenexplosion. Dabei war sie als Sozialistin grundsätzlich
voller Glauben an die Zukunft.
     
    manchmal
stürzten ganze Vorhangsysteme zu

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