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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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ALS SICH
EINZUMAUERN. Sie scheute sich von Anfang an nicht, im Sinne der Seelenhygiene
beschämende Wahrheiten auszusprechen, und meinte beispielsweise eines Tages
eben: IHR SEID HIER ALLE NOCH WIE KINDER, GEORG! Nun bin ich aber so geknetet
worden, wie ich geknetet worden bin. Und daran, daß ich etwas kindlich
geblieben bin, konnte meine klarsichtige Frau auch durch jahrelanges
Hinterfragen nicht viel ändern. Ebensowenig konnten es unsere
vollkontaktreichen Beziehungskämpfe.
    Bei uns zu
Hause herrschte Wildwuchs, Sonderlichkeit gehörte zur Norm, und alle Macken,
auch Breitbandmacken, waren erlaubt, wenn auch nicht flächendeckend beliebt.
Unsere Entwicklung und unser Weiterkommen überwachte kein Oberhaupt, kein
gerechter und weiser Herrscher. Uns allen wäre aber auch mit dem besten Coach
von außen nicht zu helfen gewesen, denke ich. Wir waren so etwas wie ein
generationsloser Sonderbrei. So gesehen war es sicher kein Zufall, daß ich auch
im sonstigen Leben besonders solche Originale schätzte, die aus der Art fielen,
mit psychischen Auffälligkeiten Punkte machten, von anderen Parallelgenossen
auf Anhieb zu Ekelpaketen abgestempelt wurden. Ich persönlich schätzte meine
Tanten als schwer erziehbar ein. Im Gegenzug empfanden die Tanten mich als
durchaus vollkommen.Zu den Begeisterungsprofis zählte natürlich auch meine
Mutter. Sie schwärmte für dieses und jenes, immer wieder mit der unverfälschten
und wie neugeboren-neuerwachten Frische einer Heranwachsenden. Wenn ich an
meine Mutter denke, sehe ich sie, wie sie auf jedem Schritt mit initiierenden
Erlebnissen konfrontiert wird - und nicht aufhören kann zu staunen. Dahinter
stand vielleicht die grenzenlose Dankbarkeit dafür, daß sie tagtäglich den gewöhnlichen
Nachkriegsalltag überhaupt genießen durfte. Meine Mutter kam immer wieder mit
leuchtenden Augen nach Hause und erzählte irgendwelche Ungeheuerlichkeiten,
Sensationen oder Anekdoten. Sie fand es konsequent, daß einer ihrer Kollegen
seinen bei einer Redaktionssitzung kritisierten Artikel einfach aufgegessen
hatte. Einmal konnte sie sich kaum beruhigen, als sie erfuhr, daß ein Junge,
den sie gekannt hatte und der irgendwann vor dem Krieg seinen eigenen Urin
getrunken hatte, nach dem Einmarsch der Deutschen tatsächlich Nazi geworden
war. Fast jedes Jahr brachte meine Mutter die ersten Frühlingsknospen
irgendwelcher Büsche mit nach Hause und betete sie wie Vorboten eines großen
Weltwunders an. Und wir waren beide frühlingsglücklich, wenn wir den - angeblich
auch Steine ansteckenden - Aufbruch der Natur nicht verschlafen hatten.
    - Wo
halten die Pflanzen ihre Uhr versteckt? fragte mich meine Mutter, weil ich in
der Schule Naturkunde hatte.
    - Und wie
sieht die Zeit aus? fragte ich zurück und zitierte damit einen damals populären
Chanson.
    Vielleicht
war meine Mutter nicht dauernd außer sich, sie war es aber oft. Unbedingt im
Zusammenhang mit großen wissenschaftlichen Entdeckungen oder bei Unglücken. Als
eine amerikanische Wasserstoffbombe bei einem oberirdischen Test alle
Berechnungen übertraf und dreiundzwanzig nichtsahnende japanische Fischer mit
Flockengestöber überraschte und verstrahlte, verließ sie das erste Mal
ungekämmt die Wohnung. Aber diese Erinnerung kann so nicht stimmen, zu diesem
Zeitpunkt war ich erst drei Jahre alt. Als der angebliche virale Ursprung aller
Krebserkrankungen gefunden worden war (Dr. Helene Toolan und ihrem Hamster-Test
sei gedankt - ENDLICH!), glühte meine Mutter wie eine Alarmleuchte, lief durch
alle Zimmer und scheuchte die ganze Tantenschar auf. Sie erzählte uns mit dem
aktuellen »Spiegel« in der Hand, daß darüber hinaus eine revolutionäre
Behandlungsmethode gefunden worden sei (die von Dr. Issels), und meinte voller
Erleichterung, daß 4711-Toni, eine Großgroßachteltante, die ausnahmsweise nicht
bei uns wohnte und deren Vater vor dem Krieg in Ostrau Vertreter der Kölner
Firma gewesen war, hoffentlich nicht würde sterben müssen. Oder sie schilderte
mir Chruschtschows Trommelfeuer vor der UNO und spielte mir sein legendäres Auf-den-Tisch-Hauen
mit einem Schuh nach. Sie schlug mit einem Pantoffel auf den Tisch und freute
sich über meine aufgerissenen Augen. Für mich sah es so aus, als ob sie in New
York persönlich dabei gewesen wäre.
    Ich war
lange Jahre Mutters Lehrling, Mutters Anzutschkind, und ich lernte es
gründlich, mich genauso wie sie über jeden Unsinn, Reinfall, jede Neuigkeit
oder jeden Quantensprung der Technik zu

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