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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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er scherte sich allerdings wie
ein guter Soldat auch nicht um seine Kleidung, schob alle Schnipsel, Sand und
Staub wie ein Besen vor sich her. Er warf sich gleich von Anfang anauf seinen
fleischigen und für solche Kommandoaktionen günstig fettgepolsterten Rücken und
schob sich im Klassenraum kraftvoll wie eine Wühlmaus unter Wasserdampf die
Gänge lang. Erst einmal von vorn nach hinten, dann auch quer zwischen den
Bänken - offenbar hatte ihn der Ehrgeiz gepackt, mit dem kompletten Raum auf
Rückenfühlung zu kommen. Dieser frisch-entfesselte Prager Themroc verstand
seine eigene rasende Botschaft sicher genauso wenig wie wir.
    Meine
Mutter pflegte und salbte sich jeden Tag gründlich. Und weil sie kein Sparbuch
besitzen wollte, gab sie im Grunde ihr ganzes überschüssiges Geld für Parfüms,
Schmuck, Kleider und Schuhe aus. Konnte ein mitfühlender und verständnisvoller
Mensch zu so einem reizenden Geschöpf wie meine Mutter unfreundlich sein oder
sie sogar schlecht behandeln? Konnte man so etwas Unschuldig-Wertvolles
verlassen und dadurch ins bodenlose Unglück stürzen? Eigentlich hätte dies ein
Ding der Unmöglichkeit sein müssen. Zum Glück gelang mir irgendwann doch der
Absprung - spät und erst nach mehreren Anläufen. Ich versuchte, den Abschied
immer wieder blitzartig durchzuziehen, etwas Langgezogenes wie eine
kontrollierte Ablösung hätte man mir nicht erlaubt. Bevor die räumliche
Trennung noch nicht endgültig vollzogen war, fürchtete ich mich vor einer
Schlacht, die in ein Schraubenzieherstechen, Hammer-Schädelhauen oder
Kettensägenkreuzen hätte übergehen können, statt chirurgisch sauber ausgeführt
zu werden.
    Schlechte
Laune verbreitete meine Mutter nur kurz vor ihrer Menstruation; das geschah
aber nur alle vier Wochen und dauerte meist relativ kurz. Oft fiel der
hormonelle Stimmungsabfall aber schwächer aus, und ihre Freude am Leben blieb
äußerlich konstant. Dafür war sie immer wieder mal schwer depressiv.
Dummerweise in vollkommen unregelmäßigen Abständen - und aus »völlig
unerklärlichen Gründen« sowieso. In diesen Phasen brauchte und wollte sie
absolute Ruhe, man mußte sie einfach nur von allen häuslichen Pflichten
befreien. Meine Mutter wurde in eine Art psychohygienische Quarantäne
geschickt. Auf ihren Wunsch gab es sie sozusagen gar nicht. Wir sollten mit ihr
möglichst nicht sprechen. Ihre Ärzte, die bei uns sowieso als Heilige galten,
hatten es so angeordnet und uns keine Regelverstöße erlaubt. Man überließ meine
Mutter also ihren Qualen, ihr Zustand galt als leicht ansteckend. Ihr
Stimmungsabfall sollte höchstens »mit Verständnis begleitet« und »respektiert«
werden. Dabei konnten wir gar nicht wissen, was es in Mutters Innerem zu
verstehen oder zu respektieren gab. Unsere Zurückhaltung schmeckte trotzdem
ganz edel.
    Aufgrund
dieser zeitweiligen Abschottung blieb meine Mutter von allen üblichen
Aufregungen verschont, und das tat ihr offenbar wirklich gut. Nach ihrer
Rückkehr unter uns Gesunde war auf einen Schlag alles wieder in Ordnung, und
ich sah wieder VIEL GLANZ IN IHREM AUGE. Unsere Begeisterungsstürme über die
Welt konnten wieder ausbrechen und für eine Weile andauern. Letzten Endes war
meine Mutter eine ausgesprochen starke Frau. Zum Glück! Ich brauchte sie so,
wie sie war, ich brauchte ihre Kraft relativ lange. Sie selbst hatte prächtige
genetische Grundlagen geerbt und hatte mir einiges davon abgegeben. Daß sie die
Konzentrationslager überlebt hatte, lag keinesfalls nur an Zufall und Glück,
meinte sie. Meine Mutter hatte - das sind ihre Worte - Vitalreserven eines
Pferdes. Leider war sie gleichzeitig ein unangenehmer Gegner und kämpfte in
ihrer Not auch mit ungewöhnlich üblen Mitteln. Wenn es sein mußte, setzte sie
beispielsweise schamlos - ohne mit einer einzigen Arschbacke zu zucken - ihre
Durchfälle ein.
    Im
Zusammenhang mit den Eigenarten meiner Mutter versuchte ich darüber nachzudenken,
woher der Drang nachpositiven Erregungszuständen bei uns überhaupt herrührte.
Religiös waren wir alle nicht, religiös waren auch alle Schornsteinbrüder und
die anderen ihrer Generation nicht gewesen. Trotzdem empfand ich unseren Willen
zur Entzückung als religiös, jedenfalls als eine an die Religion angelehnte
Vorgabe fürs Leben, als eine Pflicht, sich auf der Welt um jeden Preis wohl zu
fühlen. Irgendwo hier wurzelt vielleicht auch die kulturelle Ächtung jeglicher
Jammerei - im Leben wie in der Kunst. Das Jammern über

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