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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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sagen wir in meiner Bettnässerzeit - vermehrten sich die in mich zu Hause
eingepflanzten ... wie hätte ich sie damals nennen sollen?, ich hatte nicht
einmal die primitivste Fachterminologie zur Verfügung ... vermehrten sich die
in mir lauernden Vorhöllenwürmer nur langsam, nach und nach verbündeten sie
sich aber miteinander und verkrallten sich in meinem aufnahmebereiten
Fleischsein, verhakten sich in allen meinen Muskelfasern, Gefäß- und
Darmtraktwindungen so gut, daß sich in mir eine regelrechte seelische
Kloakenwirtschaft - an solchen frei kreierbaren Termini mangelte es mir nie -
herausbilden konnte. Eine Affinität zum Unglück besaßen bei uns zu Hause
sowieso alle - allerdings auch Fähigkeiten, mit dem eigenen Unglück
einigermaßen zivilisiert umzugehen. Positiv daran war, daß ich von klein auf
nicht nur die unterschiedlichen Arten der Verzweiflung, des Umgangs mit der
Verzweiflung vor Augen hatte, ich konnte nebenbei auch die seltsamsten
Varianten des Unglücklichseins miteinander vergleichen. Wenn auch viele der
Strategien meiner Nächsten etwas sonderbar waren, man brachte sich bei uns
wenigstens nicht um. Man machte weiter, beschäftigte sich Tag für Tag mit egal
wie lächerlichem Kleinkram, stolperte eben von Hindernis zu Hindernis, bis es
einem wieder besserging. Die Tanten sprachen über ernste Angelegenheiten
meistens deutsch miteinander und verwendeten dabei überdurchschnittlich oft das
Wort »Verzweiflung«. Ich war allerdings nicht gezwungen, ihre Verzweiflung
besonders ernst zu nehmen. Einerseits sollte ich ihre auf Deutsch geführten
Gespräche nicht unbedingt verstehen, andererseits hatte ich mir das Wort
»Verzweiflung« falsch übersetzt. Ich wunderte mich nur, wieso die Frauen
andauernd (typisch!) so viele ZWEIFEL hatten, warum sie also dauernd an allem
knabberten und zweifelten.
    Ich hatte
tatsächlich keine Chance, ein ausgeglichenes Leben in einer wenigstens tendenziell
zur Harmonie neigenden Umgebung zu führen. Die aus vielen Quellen gefütterten
Verrücktheiten meiner Tanten hätten auch viel kernigere Männer hochkomplexe
Neurosen entwickeln, dauerhaft gräßlich schiefe Nervenwurzeln schlagen lassen.
Meinen Onkel ONKEL - dieses Beispiel ist plastisch genug - hatten sie in eine
schwere Internierungsneurose getrieben. Hätte er sich gewehrt! Hätte er es
gewagt, und egal wie kulturlos! In dem Fall hätten für mich - als greifbares
Anschauungsmaterial - wenigstens einige Brosamen von rudimentären
Kampftechniken abfallen können. Kernig war dieser Mann leider nur wenig mehr
als ein Weichei. Er hatte oft einen bestimmten Blick, der mich bis heute bei
allen möglichen »Kerlen« rasend macht: Dieser Typ Mann - in der Regel war er früher
Berufsoffizier unserer Volksarmee ... Dieser Typ Mann - der Zivilwildnis nun
schutzlos ausgeliefert - täuscht gern vor, über etwas tiefsinnig nachzudenken,
wobei ihm aufgrund der leergefegten Anspannung um die Augen anzusehen ist, daß
in seinem Gehirn die totale Windstille herrscht. Das ist jetzt aber eine
irreführende Abschweifung - ich will auf etwas ganz anderes hinaus: die mich
belastenden Einflüsse wurden mit der Zeit nicht weniger, sondern mehr. Die
tantenseitigen Verhaltensmacken führten zur Neu-Induktion weiterer Abnormitäten
onkelseits - und diese hatte ich zusätzlich zu verkraften, wie auch diejenige,
die ich außerhäuslich aufgelesen hatte. Das war mein Alltag, ich kannte nichts
anderes, ich kannte es nicht anders. Und wenn sich labilisierte Individuen -
ich meine meine Tanten - eine schiefe Normalität zusammenbasteln, dann ist es
eben ihre Normalität. Wenn kaputte Lebensläufe kreativ fortgesetzt werden, dann
ist es eine legitime Fortsetzung dieser Lebensläufe - egal, ob dabei neue
gemütshinkende Geister gezüchtet werden. Damit meine ich mich. Wie glücklich
alle Trittbrettgeister, die zur familiären Vorgeschichte gehörten, tatsächlich
gewesen waren, ist irrelevant. Ich hielt fast alle diesbezüglichen
Familienlegenden vorsichtshalber für wahr. Daher waren alle möglichen
Familienmitglieder - ob sie nun glaubhaft ins Positive verzerrt waren oder
nicht - wenigstens dazu prädestiniert, für immer meine zum Glücklichsein
einladenden Leitfiguren zu bleiben.
    Alle
unsere bei uns herumtorkelnden Erinnerungsverwandten schlichen an mir wie
betatschbare Lemuren vorbei. Und sie wirkten oft plastischer als einige meiner
wirklich noch atmenden Nächsten - agiler zum Beispiel als meine Kellertante
Peprl. Diese vegetierte

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