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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Verwundung im Ersten Weltkrieg ertragen
mußte. Nachdem das Wäschestück von einer Nachbarin auf einem Zaun entdeckt, an
den Initialen erkannt und uns gebracht worden war, klaffte bei uns die Wunde am
Unterkiefer meines Großvaters trotzdem noch weiter. So war es aber in Ordnung,
die Intensität meiner Nächsten entsprach mir voll und ganz. Wenn dieselbe
Großmutter Lizzy wegen eines fürchterlich dummen Zufalls oder fatalen Fehlers,
der ihr am 1.11.1942 passiert war, immer noch litt, litt ich eben strahlend mit.
Sie hatte damals auf die Reise nach Theresienstadt ihren Wecker mitgenommen,
was - warum auch immer - streng verboten war. Und sie konnte es sich bis zu
ihrem Tod nicht erklären, wieso der Wecker an diesem ersten November und
ausgerechnet bei der Gepäckkontrolle zu läuten begann. Der erste November war -
ein Zufall oder nicht - der Todestag ihres Mannes.
    Die
spezifische Art der Vergangenheitsbewältigung, die bei uns praktiziert wurde,
nahm nie ein Ende. Tante Klara und Tante Györgyi waren in der Grundschule in
denselben ungarisch-jüdischen Jungen verliebt. Dieser floh mit seinen Eltern
aus der Slowakei schon 1938 nach Palästina und war seit einer Ewigkeit
verheiratet - weigerte sich aber hartnäckig zu verraten, welche von den beiden
Mädchen er damals schöner gefunden hatte. Eigentlich wurde von ihm seit
Jahrzehnten erwartet, endlich von seinen damaligen LIEBESGEFÜHLEN zu sprechen.
Klara und Györgyi hätten über ihr Liebesdrama gern einen Roman geschrieben. Ich
meine zwei - jede einen anderen.
    In meiner
Familie wurde mir infolge des allgemeinen Gefühlschaos - wie man sich denken
kann - viel zum Staunen geboten. Und auch wenn ich manchmal nur wie ein stummer
Statist danebenstehen und in meiner Verwirrung nicht nachdenken konnte, übte
ich mich wenigstens im Studium von Details, speicherte nebenbei Gerüche von
besonders exotischen Besuchern, imitierte zur Probe Zuckungen einer unter
Stalin inhaftierten - also nach dem Krieg WIEDERinhaftierten - Dame, wunderte
mich über die häßlichen Gesichtszüge meiner auf der Treppe heimlich weinenden
Mutter. Wenn Herr Goldstücker kam, war seine Zeit als Parteihäftling kein Thema
mehr, es gab viel wichtigere und vor allem aktuellere Dinge zu besprechen.
Nicht nur ich -  auch Eduard Goldstücker und meine Mutter blickten viel lieber nach
vorn. Worauf ich hinauswill: Man gönnte mir keine freie Minute, in der ich mich
hätte langweilen können. Leider war ich damit nicht zufriedengefüttert, wurde
vielmehr in jeder Beziehung maßlos. Wenn auch der Trupp aller unserer
Haushysterikerinnen harmlose Aufregungen zu Großereignissen aufbauschen konnte,
war es mir einfach nie genug. Ich weiß noch, wie ich Kinder aus kaputten
Familien voller Geschrei beneidete, weil sie aus so bodenlosen und scheinbar
noch viel interessanteren Verhältnissen kamen. Seelendreck, Verdorbenheit und
Haßtiraden beispielsweise -  so etwas kannte ich noch nicht gut genug, und ich
hätte es gern auch zu Hause geboten bekommen.
    In den
offen destruktiven Familien gäbe es nicht nur andere und viel abstoßendere
Dinge -  handgreifliche Attacken beispielsweise - zu erleben, solche Familien
hätten noch ganz andere Vorteile gehabt: Man hätte derartigen Ansammlungen von
Idioten, Gewalttätern und Drecksgnomen zur gegebenen Zeit viel einfacher den
Rücken kehren und diese Leute ihrem Schicksal überlassen können. Man hätte auf
einen Schlag den Schlußstrich ziehen können. Das kam bei uns dagegen nicht in
Frage, so etwas durfte man nicht tun. Dazu waren die Mitglieder meiner Familie
zu reizend und die bei uns vorhandenen kohäsiven Kräfte viel zu stark. Die
meisten waren an ihrem Unglück ganz und gar unschuldig, waren äußerst
verletzbar und gaben ihre Schutzlosigkeit offen zu. Mein Onkel, der in seiner
Schutzzone außerhalb - so gut wie außerhalb - jeden Mitgefühls vegetierte,
konnte an meinen diesbezüglichen Hemmungen nichts weiter ändern.Im Nachhinein
kommt mir unsere Schutzgemeinschaft wie ein großer Kindergarten vor. Diese
späte Sicht auf das damalige Durcheinander verdanke ich, ehrlich gesagt, meiner
Frau. Die meisten Erkenntnisse über meine Familie wurzeln in den frechen
Sprüchen, die aus dem schamlosen Mund dieses hinzugekommenen und so anders
gearteten fraulichen Wesens kamen. Meine Frau schaffte es sogar, die bei uns
längst gefällten und hundertmal bestätigten Urteile über den Onkel ONKEL umzustoßen:
ER HATTE BEI DIESER FRAUENÜBERMACHT DOCH KEINE ANDERE WAHL,

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