Faktor, Jan
Schicksalsschläge,
unverschuldetes Pech und Ähnliches stufte ich schon immer als unanständig ein,
jedenfalls wirkte es auf mich zu jeder Tageszeit lästig und störend - als
würden sich Niederlagen einfach nicht gehören.
Meine
frauheit-zentrierten, aber auch sachwelt-orientierten Aufwallungen von
Begeisterung mündeten bei mir - egal, wie kurzzeitig und punktuell sie waren -
oft unmittelbar in Verliebtheiten. Dabei waren die Übergänge von diesen
diffusen Gefühlsschüben zu den konkreteren starken Liebesgefühlen mehr als
fließend. Ich konnte mich während völlig unterschiedlicher Phasen meines Lebens
- bitte nicht lachen - in vollkommen gewöhnliche Eckhäuser verlieben, ich
konnte mich in ganze Gebäudekomplexe verlieben, wenn mir dort etwas Beglückendes
widerfahren war. Ich liebte beispielsweise fünf Jahre lang ein Krankenhaus, in
dem man mir einmal eine so honigsüße Narkose verpaßt hatte - die schönste
Narkose meines Lebens -, daß ich lange Jahre nach einem Vorwand für eine
mögliche Folgeoperation suchte. Natürlich war es für mich absolut kein Problem,
mich in ganze Ansammlungen, in stark durchmischte Zusammenballungen oder sogar
Großgruppen von Frauen zu verlieben - ohne weiteres in alle auf einmal. Ein
Liebesgefühl entwickelte ich zum Beispiel aber auch, wenn mir auf der Straße
ein verwahrlostes junges Wesen mit ebenmäßigen Gesichtszügen - ein weibliches
oder männliches - aufgefallen war. Ich verliebte mich nicht unbedingt indiesen
konkreten Menschen, zum Vorschein kam eher mein Wunsch, daß derjenige, der für
seine innere Vollkommenheit inzwischen etwas getan hatte, auch die ihm
zustehende Zuneigung und Wertschätzung bekommen sollte - von wem auch immer.
Diese Gefühle galten in demselben Moment vielen anderen Lebewesen, die ich
aktuell zwar nicht vor Augen hatte und mit meinen guten Wünschen nicht
unmittelbar erreichen konnte, die mich aber trotzdem - telepathisch blieben wir
sowieso pausenlos verbunden - um eine Art Zuspruch baten.
- Du
siehst so erschöpft aus, Georg - was war heute los?
Das
seltsame Pflichtgefühl, die erotisch-ästhetische Ausstrahlung eines jeden
Menschen als einen Heiligenschein anzusehen und zu ehren, wurde zweifellos im
Sog der Aura unserer Wohnung geformt. Auch die dort siedelnden Frauen
verausgabten sich andauernd, speisten alle Bedürftigen mit einer Kraft, die
woanders eher bei der Gartenarbeit verschwendet wurde. Wenn bei uns ein
Handwerker zugange war, verließ er die Wohnung mit dem Lächeln eines
Verliebten. Für mich waren dabei nicht nur diese Männer mit ihren affenhaft
behaarten Armen immer ein Erlebnis, auch das gesprächsbedingte Aufblühen der
einen oder anderen Tante zu beobachten bedeutete so etwas wie eine Übung im
Menschenmögen. Ich bewunderte notgedrungen die verschiedensten Lebewesen - die
agierenden wie die empfangenden - für ihren Lebensmut, und dies unabhängig
davon, ob ihnen beim Glücklichwerden zu helfen war oder nicht. Oft waren sie
leider dabei, mangels Weitblick eher auf ihren eigenen Untergang zuzusteuern -
lieben wollte ich sie trotzdem. Häßliche Menschen liebte ich nicht unbedingt,
Leichen auch nicht und Haufen von KZ-Leichen schon gar nicht. Wenn es mir sehr
gut ging, gab es für mich allerdings überhaupt keine Häßlichkeit auf der Welt,
gar keine abstoßenden Mißgeburten. Und wenn diese Mißgeburten sogar von innerem
Leuchten erfüllt waren ...So etwas wie Liebesregungen überkamen mich auch bei
ungewöhnlichen Lichtverhältnissen oder beim Anblick ästhetisch anmutender,
wenig beachteter Details auf den Bürgersteigen - also vergessener und an
Menschen wie mich gerichteter Signalsedimente. Ich agierte lange wie ein
Vorschulkind, dessen Augen notgedrungen eher Nahziele auf der Erdoberfläche
anvisieren und in der Bodennähe pausenlos etwas finden. Das irgendwo am Anfang
meines Lebensberichts erwähnte Erlebnis mit dem Elektrokabel fand ich
seinerzeit schon, jedenfalls recht bald, etwas abnorm - ohne daß mir bei dieser
Erkenntnis jemand beistehen mußte. Und es berührt mich bis heute so seltsam
peinlich, daß ich jedem nur raten kann, solche Abnormitäten lieber niemandem
anzuvertrauen - geschweige denn sie aufzuschreiben.
Ich
näherte mich unserem Haus und sah am Zaun in einer Nebenstraße eine
hochgewachsene Frau stehen, sie hatte wunderschöne lange Haare. Es dämmerte
etwas. Ich wich von meinem Weg ab, machte einen Bogen, um der geheimnisvollen,
am Zaun so elegant wartenden Erscheinung näher zu kommen.
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