Faktor, Jan
wie unter Tage des Alltags, lebte im Grunde in einer
Art Vestibül der Unterwelt. Und als ich einmal aus den Ferien nach Hause kam,
war sie tatsächlich verschwunden. Als sie noch lebte, führte ich sie einmal in
den Park und hatte sie beim Fußballspielen vollkommen vergessen. Beim Einbruch
der Dunkelheit war sie auf ihrer Bank leider nicht mehr zu sehen gewesen.
- Peprl
ist gar nicht zu Hause.
- Sie ruht
sich bei mir aus. Georg hatte sie im Park vergessen.
Aber auch
einige der überirdisch siedelnden Frauen - beispielsweise Urtante Bombe -
bewegten sich in einer Realität, die meßtechnisch nur schwer zu erfassen
gewesen wäre. Ideologisch lebte sie sowieso eher auf einer Insel wie
Kuba.vergaß in ihrer Sonderzone sogar die Pflicht zur familiären Solidarität.
Als Mutters teure italienische Pumps mit schmalen goldfarbenen Absätzen nach
zwei Tagen auseinanderbrachen, freute sie sich leise. Für sie war es nur ein
weiterer Beweis für die Sinnlosigkeit der kapitalistischen Ausbeutung, ein
Beweis für den unausweichlichen Untergang dieses Wirtschaftssystems. Manche
dieser Atmenden watschelten herum, hatte ich das Gefühl, wie in einem
Versuchslabor mit stark veränderter Gravitation. Die Vergangenheit gärte und
blubberte bei uns hinter jeder Tür und jedem Vorhang. Aber wir gestalteten
unsere Sorgen um die Gegenwart und Vergangenheit trotzdem so lebendig wie nur
möglich. Daß bei diesem ewigen Wiederkäuen des Vergangenen trotzdem vieles
vollkommen unverdaut blieb, kann man getrost annehmen.
Ich will
mich unbedingt davor hüten, über die Zustände bei uns zu Hause zu richten und
nachträglich nur klugzuscheißen. Ich war ein Teil des Ganzen, ich ließ mich zum
familienbraven Wiederkäuer und Wiederbeleber bereitwillig aufziehen. Das bei
uns aus Preußendeutschland -sicherlich via Wien, also dank des Österreichischen
Rundfunks - angekommene Wort »Vergangenheitsbewältigung« verstand ich lange
nicht. Noch lange Zeit nach dessen Auftauchen empfand ich dieses BEWALT- &
(VER)WALTUNGS-Wort als einen Griff in ein noch leicht dampfendes Häufchen. Die
Tanten hatten über dieses Wort gelacht, als sie es zum ersten Mal gehört
hatten. Wenn gute Devisen aus Deutschland im Anmarsch waren, lachten wir später
über das Wort Wiedergutmachung. Wir freuten uns über dieses Geld aber trotzdem
außerordentlich - und gaben es so schnell wie möglich aus.
- Wieso
keine Rollschuhe?
- Die sind
zu teuer. Vielleicht das nächste Mal.
Das
nächste Mal gab es dann aber nicht. Zu den vermeintlichen, am Anfang des
Kapitels angesprochenen Irreführungstendenzen hinsichtlich meiner Zukunft muß
ich noch eines anführen: Hinter dem Glauben an meine glückliche Zukunft stand
und steht kein nachträglich beschlossener Beschönigungswille. Ich hätte nicht
behaupten können, ich hätte inmitten von Frohsinn gelebt, wenn es nicht auch
wahr gewesen wäre. Ich wuchs tatsächlich inmitten von Fröhlichkeit auf, und
diese gab es bei uns dauernd zu hören, zu tasten und zu riechen. Beim Essen
auch zu schmecken. Fest steht allerdings, daß ich in unserem nahrhaften
Haushumus viel zu lange steckenblieb. Bei uns gehörten Enge und Nähe zur
vertraglich zugesicherten Pflicht, der Umgang miteinander hatte etwas von einer
Dauerumarmung. Dieses Aneinanderkleben und Klebenbleibenmüssen störte uns
Kinder, egal, mit wie vielen Rezeptoren wir übersät waren, keineswegs, wir
stellten nichts dergleichen in Frage, gingen keiner Tante aus dem Weg. Aus
diesem Grund war ich am Puls aller anderen wirklich nah dran; egal, ob die
dazugehörige Gefühlsfärbung transparent war, benannt worden war oder nicht -
und ob lächelnd vorgebracht oder nur gedämpft froh. Lächelnd oder sogar
strahlend wurde bei uns selbstverständlich auch über die Umgebrachten
gesprochen. Außerdem war es überhaupt nicht wichtig, ob die einzelnen Unglücke
fünfzig, dreißig oder erst zwei Jahre zurücklagen. Die dazugehörigen
historischen Daten, Gesellschaftsordnungen, Kriegs- und Friedenszeiten wurden
dauernd durcheinandergebracht, in unseren Kinderköpfen konnte auch längst
vergammelte Geschichtssubstanz frisch wie ein knuspriger, mit Knoblauch und
Majoran abgeschmeckter Kartoffelpuffer erscheinen.
Großmutter
Lizzy - meine Bettnachbarin - verlor im Jahre 1961 auf dem Weg von der
Wäscherei einen Kissenbezug und weinte anschließend auch über ganz bestimmte
körperliche Schmerzen aus dem Jahr 1916, die der österreichische Soldat
Schornstein, ihr Ehemann, bei seiner
Weitere Kostenlose Bücher