Faktor, Jan
habe
lange darüber gegrübelt, wieso keine meiner Damen über die Ärmlichkeit und
Häßlichkeit unserer Behausung geklagt hat. Dabei war unsere relative Armut gut
sichtbar, da und dort problemlos zu tasten - sogar an der Kleidung der einen
oder anderen Dame, zum Beispiel an den mit Lacktropfen versiegelten Stellen, an
denen dieLaufmaschen ihrer Strümpfe zum Stillstand gebracht worden waren.
Einmal wollte ich Tante Erna auf dem verschneiten Bürgersteig stützen und rutsche
mit meiner Hand durch den kaputten Pelz in ihre Achselhöhle. Ihr ausnahmsweise
schuldbewußter Blick war unvergeßlich. Ganz nachfühlen konnte ich die bei uns
sonst herrschende Gelassenheit nie wirklich. Zwischen den Tanten gab es in
diesem Punkt aber offenbar keine großen Differenzen. Vielleicht spielte hier
auch wieder der rauschbärtige Karl Marx eine Rolle. Die Damen dachten
eventuell, der Sozialismus müsse - wie jedes aus dem Nichts auferstandene
Unternehmen - häßlich, ärmlich und klein anfangen; erblühen könne er und würde
er erst später. Die Tanten stolperten also in ihrer tadellosen Haltung über
gefährlich zerklüftete und sich nach oben biegende Ränder der häßlichen
Linoleumbahnen im Flur, blieben an irgendwelchen zersplitterten Kanten hängen
und zerrissen sich dabei wiederholt ihre kunstvoll ausgebesserte Kleidung. An
ihren Kostümen und Röcken sah man sowieso immer irgendwelche fadenscheinigen
Stellen. Die Tanten ertrugen alle möglichen Ankleideprobleme meistens mit
Gleichmut, die gemeinsamen Nähkränzchen waren sowieso beliebt. Und sie wußten
sich auch anderweitig zu helfen: Sie beklebten beispielsweise - ohne Onkel
ONKEL um Hilfe bitten zu müssen - besonders aggressive Stuhlkanten mit
hautfarbenen Heftpflastern; außerdem entwickelten sie mit der Zeit bestimmte
Abwehr- oder Vermeidetechniken. Im Flur wichen sie den schlimmsten
Fußbodenfallen traumwandlerisch aus und beachteten diese Schandflecke einfach
nicht mehr.
Das graue
Linoleum im Flur war braun-gelb-rosa gesprenkelt. Der Schöpfer dieses fürchterlichen
Musters konnte sicher nicht ahnen, daß sich später blutjunge Ästheten wie ich
ausgerechnet über diejenigen Stellen freuen würden, an denen dieses Muster
abgetreten und nicht mehr zu erkennen sein würde. Überall, wo das Linoleum gar
nichtmehr vorhanden war, sah man breite und von früher stark durchgetretene
Dielenbretter. Der schönen Holzmaserung konnte der eingefressene Dreck nicht
viel antun - und ich liebte dieses Holz, das voller Echtheit war. Die
Linoleumlöcher wurden größer und vermehrten sich natürlich auch dank meiner
Mitarbeit. Ich knickte die rissigen Ränder dieses Belags gern um, brach die
verhärteten, auf der Unterseite teerschwarzen Stücke aus und veränderte dadurch
die Umrisse der einzelnen linoleumbefreiten Gebiete. Diese bekamen von mir
allmählich sogar Eigennamen wie England oder Irland, das größte Loch hieß
Australien. Die Tanten fühlten sich beim Betreten des ständig wachsenden
Archipels nicht viel anders, als wenn sie über ein denkmalgeschütztes Parkett
schweben würden und dabei höchstens irgendwelchen empfindlichen Intarsien
ausweichen müßten. Wenn eine von ihnen wochenlang in irgendeiner unmöglich
gemusterten Schürze herumlief, mußte erst ein Außenstehender andeuten, ihr
Kostüm, das sie darunter trug, käme nicht genügend zur Geltung.
Eines
Tages nahm sich der materialkampferprobte Onkel die Schande unseres Flurs vor
und verlegte einen elastischeren, also fortschrittlicheren Fußbodenbelag. Da
Onkel ONKEL farbenblind war - das heißt rotgrün-sehschwach -, mußte er sich um
die farbliche Harmonisierung hinsichtlich der vielen roten, grünen (und mit
ihnen verwandten) Farbtöne der Vorhänge nicht kümmern. Der Fußboden war jetzt
immerhin einfarbig, leider penetrant hellblau. Dieses Linoleum hatte der Onkel
einem Bekannten SEHR GÜNSTIG abgekauft. Die Ritzen zwischen den Bahnen
vernagelte er mit berillten Aluminiumstreifen, die sich leider etwas wellten
und bald zu neuartigen Stolperfallen mutierten. Es gäbe noch viel häßlichere
Farben, meinte meine Großmutter Lizzy, die immer grundsätzlich versuchte, an
jedem Reinfall oder Mißgeschick etwas Erfreuliches zu finden.
Als
Baronin Nädhernä bei uns lebte, war sie auch schonverarmt, trotzdem - wurde mir
berichtet - wirkte sie vornehm wie eh und je. Und sie war es gewohnt, herrische
Befehle zu erteilen. Aus ihrem Schloß in Janovice wurde sie zuerst von den
Deutschen verjagt, dann hausten dort
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