Faktor, Jan
die Russen, schließlich bediente sich an
der Einrichtung auch noch die tschechische Dorfbevölkerung. Die Baronin paßte
in vielerlei Hinsicht zu uns. Sie wollte im zukünftigen tschechischen
Kommunistenparadies allerdings nicht bleiben, wollte nach England auswandern,
später eventuell nach Argentinien. Ihre Verarmung empfand sie aber auch als
Erleichterung - ähnlich wie meine Damen. Sie brauchte sich endlich keine Sorgen
mehr über den baulichen Zustand des Schlosses zu machen, die aufreibende Arbeit
im Park und Garten fiel weg, bei Stürmen mußte sie wegen ihrer wertvollen Bäume
keine Ängste ausstehen.
Als
Baronin Nädhernä bei uns wohnte, war das Tantenkartell noch nicht vollständig.
Wir waren noch nicht alle eingetroffen oder - wie ich - noch nicht geboren. Was
das Liebesleben der Baronin angeht, gab sie sich, wie man weiß, alles andere
als prüde. In dieser Hinsicht war sie bei uns auch passend untergebracht. Daß
sie eine Zeitlang - rein formal gesehen waren es dreizehneinhalb Jahre - mit
einem Verrückten verheiratet war, paßte zu uns ebenfalls hervorragend, denke
ich. Ihr verrückter Gatte hieß Graf Thun und Hohenstein. In diesen
dreizehneinhalb Jahren war unsere Baronin daher keine Baronin, sondern eine
echte Gräfin. Und korrekt wie sie war, unterschrieb sie auch so. Und nicht zu
vergessen - sie war zusätzlich noch Ehrendame des k. u. k. Damenstifts in Graz.
Ihren Schmuck besaß sie größtenteils noch, ihr eigentlicher Schatz waren aber -
wie schon berichtet - Kraus' Briefe, die sie in einem Koffer aufbewahrte.
Diesen Koffer, der unter meinem zukünftigen Bett zwischengelagert worden war,
übergab sie vor ihrer Flucht ihrem Anwalt Herrn Turnovsky. Den voluminöseren
Teil ihrer Schätze - beispielsweise die Widmungsexemplare derBücher von Kraus,
Rilke, Altenberg und einige besondere Ausgaben der »Fackel« - ließ sie in der
Königlich Niederländischen Botschaft zurück. Meine Großmutter Lizzy Schornstein
funktionierte dabei als eine der Vertrauenspersonen.
Wir
besaßen zu meiner Zeit auch noch etwas Schmuck aus der Vorkriegszeit, Teile des
vergoldeten Silberbestecks, kleine wertvolle Kunstgegenstände. Leider ging bei
uns dauernd etwas verloren. Wir aßen grundsätzlich - und daran war nicht zu
rütteln - auf fein gestärkten Tischdecken. Nach dem Essen und dem Abräumen des
Geschirrs wurde die Tischdecke an den Ecken hochgezogen, zum Fenster getragen,
um dort gründlich ausgeschüttelt zu werden. Es war eine praktische Gewohnheit
und wegen der immer hungrigen Prager Spatzen außerdem einfach Pflicht.
Dummerweise war unser deutscher Kronleuchter etwas schwachbirnig bestückt, und
in Mutters Zimmer war es dadurch abends nie hell genug. Und unglücklicherweise
legte meine Mutter beim Essen gern ihren Schmuck ab. Mit den vielen Krümeln und
sonstigen Essenresten wurden auf diese Weise nach und nach Teile des
Familienschmucks entsorgt, aber auch manche neu gekaufte Halsketten, Broschen
und Armreifen. Nebenbei wanderten durch unsere Fenster die letzten Reste des
Silberbestecks.
Gemeinsame
Mahlzeiten der Großfamilie kamen praktisch nie zustande. Die Essenszeiten der
einzelnen Damen waren zu unterschiedlich, die - leichten, versteht sich -
Spannungen wechselten zu oft, und die vom Krieg oder Frieden geprägten
Koalitionen blieben nie stabil. Aus dem Grund gab es in unserer Wohnung mehrere
autonome Kochnischen. Letzten Endes machten aber vor allem verschiedene
Überempfindlichkeiten der Damen gemeinsame Mahlzeiten allzu kompliziert, so daß
man auf sie letztendlich verzichten mußte. Erna durfte wegen ihrer Platzangst
nicht dort hingesetzt werden, wo sie schon einmal Engegefühle entwickelt hatte,
oder dort, wo sie befürchtete, beim Essen und Bauchabfüllen wieder welche zu
bekommen. Und wenn sie saß, wollte sie sich nach kurzer Zeit schon wieder
umsetzen. Györgyi hatte Rheuma, und für ihr Empfinden zog es in der Wohnung
überall - egal aus wie feinen Ritzen der weitentfernten Fenster. Einmal zog es
aus einem schwach beheizten Nebenraum, ein anderes Mal aus einem undichten
Kleiderschrank.
- Dieser
Schrank ist voller kalter Luft!
Györgyi
spürte alle kühlen Luftbewegungen einzeln, schien sogar ihre Vektorstärken und
-richtungen zu erkennen. Sie fühlte sich durch die winzigsten Strömungen (» ...
hier aus dem Parkett!«) regelrecht bedroht. Sie flüchtete oft nach kurzer Zeit
in ihr gut abgedichtetes und überheiztes Zimmer. Dort wußte sie genau, wo die
erkaltete Luft am brutalsten zu
Weitere Kostenlose Bücher