Faktor, Jan
Boden fiel, und hielt sich meist in der
Raummitte auf. Ihr Bett stand genau fünfundzwanzig Zentimeter von der Wand
entfernt. Das gemeinsame Essen wurde aber noch durch andere Verwicklungen
verhindert. Urtante Bombe durfte nie mit dem Rücken zur Tür sitzen, bei
Gewitter oder starkem Wind nicht mit dem Rücken zum Fenster - und auch nicht
zur Tür. So saßen wir abends am Tisch meistens zu dritt oder zu viert.
Großmutter Lizzy, ich und meine Mutter Anna. Die vierte war, wenn ihr die
Abendbrotflucht gelang, Onkels Frau Eva.
Zum
unvermeidlichen und doch gesamtfamiliären Ritual gehörte der gegenseitige Tausch
der Kochüberschüsse und diverser Essenreste (»Ich kann das nicht zum vierten
Mal ...«). An der pausenlosen Tauschbörse nahmen alle teil - also auch die
separatistischen Selbstversorger -, egal, ob es momentan irgendwelche
Auseinandersetzungen gab oder nicht. Verwertet wurde alles, was einigermaßen
eßbar war, nichts durfte weggeworfen werden, selbst wenn es schon leicht
schimmelte. Einmal versuchte Lizzy sogar einen Flaschenkorken zu essen -
genauer gesagt einzelne brotkrümelähnliche Stücke, die von einem Korken
stammten. Onkels Frau aß abends oft zweimal - zuerst mit ihrem Mann, mit ihm im
Grunde aber nur pro forma und wenig. Danach kam sie zu uns, brachte etwas mit
und aß hübsch weiter, um nicht noch dünner zu werden.
Der
sparsame Onkel ONKEL kochte unglücklicherweise gern - und »gut« hieß bei ihm
billig. Eine bestimmte Sorte Blutwurst war damals sehr billig. Das, was er in
seinen Töpfen aufbewahrte, sah immer undefinierbar aus und roch nach Tod. Der
zusätzliche Zweck seiner genußfeindlichen Kocherei war vielleicht aber auch,
jegliche Zuschauer und alle potentiellen Mitesser zu vertreiben. Er aß am
liebsten allein, und alle ließen ihn gern allein. Uns Kindern machte sowieso
große Angst, WIE verbissen er aß. Ich konnte den Anblick kaum ertragen,
trotzdem schaute ich ihm beim Essen nach Möglichkeit doch immer wieder zu. Er
schmiß sich die Essenhappen ganz schnell in den Mund und kaute sie dann extrem
lange - kräftig, wütend, erbarmungslos. Dabei wölbten sich seine Schläfen
ungewöhnlich stark, pulsierten so gewaltig, daß ich an ihnen mit den Augen
regelrecht haftenblieb. Solche Bewegungen, solche sprechenden
Schädelaktivitäten kannte ich von keinem anderen Erwachsenen und fühlte mich
durch Onkels Zermalmungsorgien regelrecht bedroht. Ich sah die rhythmischen Bewegungen
seiner Kiefer, stellte mir das Aufeinanderprallen seiner Backenzähne vor und
phantasierte, daß er dort problemlos auch meine Körpermasse hätte in Mus
verwandeln können. Trotz dieser ausufernden Kauübungen schien Onkels oft
stummer Mund mit der Zeit immer kleiner zu werden, zog sich infolge seiner
Verbitterung immer mehr zu. Und da Onkel ONKEL insgesamt sehr wenig sprach,
reichten ihm beim Kommunizieren im Grunde nur einige Standardsätze. Einer davon
war: GLAUB' ICH NICHT.- Aber ich habe das selbst gesehen!
- Und ich
stand daneben!
- Glaub'
ich nicht.
Was die
vom Onkel ONKEL ausgehenden bedrohlichen Signale angeht, wirkte sich leicht
entschärfend aus, daß er so etwas wie ein Mensch des Neutrino-Blicks war. Er
sah durch einen durch - manchmal jedenfalls - und sah dabei nichts. Er schien
in diesen Augenblicken tatsächlich nichts zu erfassen, sein Blick besaß absolut
keine energetische Ladung, wie es auch bei den Neutrinos der Fall ist. Die
Funktion dieses Blicks war klar: Wenn er seine Privatheit auch außerhalb der
Schrankburg bewahren wollte, mußte er andere Menschen in durchsichtige
Luftfiguren verwandeln. In der schmalen Umgehungsgasse seines Raums mußte man
sich, wenn er einem entgegenkam, an die Wand oder in die weicheren Vorhänge
drücken, da man Angst haben mußte, von ihm angerempelt oder umgerannt zu
werden.
Seine
Sparsamkeit trug immerhin Früchte. Er verdiente gut und verwertete - wo und wie
es nur ging - erfolgreich Materialien, die die VOLKSEIGENE Staatswirtschaft an
allen Ecken und Enden aussonderte. Diese gab vieles tatsächlich als Abfall
frei, ließ Brauchbares gammeln, fragmentierte und verschenkte sich in ihrer
Trägheit höchstselbst. In diesem Zusammenhang von Diebstählen zu sprechen wäre
absolut falsch. Fast alle Familienväter bedienten sich an den Überschüssen
dieser changierenden Chaoswirtschaft. Jedermann wurde dadurch zwar nicht reich,
mein Onkel wurde es doch. Aber er muß noch andere Quellen angezapft haben,
schätze ich. Er wurde jedenfalls der einzig Reiche
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