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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Ich war schon fast
dabei, zu dieser Frau so etwas wie Liebe zu empfinden, bis ich feststellte, daß
es dort gar keine Frau gab. Eben nur das blöde, am Zaun hängende Starkstromkabel.
Ein Glück - das möchte ich an dieser Stelle anführen -, ein Glück, daß mein
Vater diesen Text nicht mehr wird lesen können. Ich sehe seinen
unbeirrbarironischen Augenausdruck vor mir, der mich jederzeit zum Weichkäse
hätte degradieren können. Zusätzlich dachte mein Vater über mich dauernd Dinge,
die von Grund auf nicht stimmten. Und seine Urteile waren so boden- und
bezugslos, daß es sowieso unmöglich gewesen wäre, gegen sie anzugehen. Wenn er
um besondere Ernsthaftigkeit bemüht war, irrte er besonders grotesk.
    - Georg,
du wirst ein Mathematiker!
    - Solche
Leute brauchen wir! lallte und nickte dazu einer seiner Saufkumpane.WOZU hättet
ihr meine mathematischen Fähigkeiten gebrauchen können, ihr Trottel? Zum Zählen eurer Biere und Schnäpse? Das frage ich meinen
Vater und seine sicher auch schon längst toten Freunde bis heute.
    Beim
wärmenden Erwarten meiner Zukunft war es oftmals am klügsten, einige meiner
früheren Gegenwarten - besonders die peinlichen - einfach abzuschreiben. Die
bereits erwähnten sedimentierten Hinterlassenschaften lagen irgendwann wie
kompakte Lehmschichten in Sicherheit, tief unter mir begraben. Die
glücklicheren und viel dickeren Lagen ruhten friedlich dazwischen, von meiner
starken frühen Urschicht, die wohlig vor sich hindampfte, ganz zu schweigen.
Trotzdem war ich mehrmals nahe daran, meine Vergangenheit kurzerhand in ein
Einzelstück zusammenzuknödeln, zusammensacken zu lassen - in der Hoffnung, sie
irgendwann in einem amorphen Klumpen verkommen zu sehen. Wenn ich mich eines
Tages nicht entschlossen hätte, über meine Vergangenheit zu schreiben, wäre es
dazu sicher auch gekommen. Der Wunsch, meine Vergangenheit als eine Einheit
gären zu lassen, blieb mir aber auf Dauer erhalten. Das Bild eines solchen
nicht selektierbaren Haufens geisterte in mir jedenfalls immer wieder und roch
verführerisch. Wer hätte sich in diesem Gemisch nicht gern mitauflösen lassen?
Und vielleicht ist diese Wunschtendenz der Grund dafür, daß ich eine ähnliche
Zusammenknödelungstendenz auch hinsichtlich meiner Zukunft entwickelt hatte.
Als ein tschechisch sprechender Mensch bin ich sowieso vorvergangenheitslos
aufgewachsen. Die Vorvergangenheit ist im modernen Tschechisch ausgestorben. So
gibt es in meinem Land vor der Gegenwart praktisch nur eine einzige
Vergangenheit, nach der Gegenwart im Grunde nur eine einzige Zukunft.
    Dafür geht
das Tschechische mit den Verben an einer anderen Stelle äußerst diffizil um.
Und womöglich rettetemich diese andere und für Fremde fast unerlernbare
Feinheit unserer slawischen Sprache davor, mich in einen menschlichen
Komposthaufen zu verwandeln. Jedes Verb gibt es bei uns im Grunde zweimal, und
jedes dieser Pärchen schleppt gewisse Anhängsel von Feinheiten, etliche
Manipulationsmöglichkeiten mit Vorsilben mit sich; außerdem gewisse Spannungen,
die den dazugehörigen sogenannten Aspektkorrelationen immanent sind. Jedes der
jeweiligen Paare eignet sich nicht nur zur Erfassung der Wirklichkeit, sondern
dient auch der Vorführung seiner eigenen problematischen Doppel- bis Mehrfachexistenz.
     
    Lizzy
    Meine
wichtigste und konstanteste Bezugsperson wurde schon sehr früh meine
Hauptgroßmutter Lizzy. Sie wurde es nicht nur wegen Mutters TBC und ihrer
längeren Aufenthalte im Sanatorium, diese Rangordnung besiegelten nach und nach
auch Mutters häusliche Abschottungskuren. Und meine Großmutter blieb mein
eigentlicher Bezugspunkt bis zu ihrem Tod. Großmutter Lizzy war das stabilste
Wesen aus der gesamten Frauenherde um mich herum, sie war außerdem diejenige,
die auf uns Kinder, egal, was wir angestellt hatten, nie böse sein konnte. Ich
durfte sie necken, soviel ich wollte - sie amüsierte sich mit. Ich konnte über
sie lachen, wieviel ich wollte - sie freute sich, daß ich fröhlich war. Für
mich und meine Cousinen war sie außerdem so etwas wie ein Abfalleimer für
Apfelgriebse. Es war aber ihre eigene Schuld. Sie hatte uns verboten, jegliche
Essensreste wegzuwerfen - so auch die Apfelinnereien. Außerdem behauptete sie
wiederholt, nichts schmecke ihr besser als das Kerngehäuse.
    - Die
Schale und das Fruchtfleisch sind für euch Kinder gesund und wichtig, der
Griebs ist für alte Leute eine Art Medizin.
    Wir
sollten - mit dem Rest des Apfels in der Hand -

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