Faktor, Jan
lassen könnten, ohne dabei zu Schaden zu kommen.
Der Onkel galt als die barbarischste Instanz, die wir kannten. Ein Riese, der
zum Schlimmsten, zu den häßlichsten Strafen fähig war. Der Onkel schreckte uns
wie ein Donnergott - und ein Donnergott hätte problemlos richten können, auch
ohne einen zu berühren. Unser Gefühl, dieser Mensch hätte uns beispielsweise
fernerwürgen können, war vielleicht nicht vollkommen falsch.
Für uns
war es schon ein Problem, den düsteren Mann um harmlose Hilfestellungen zu
bitten und dadurch unsere Abhängigkeit zu offenbaren. Schon ein kleines
Verlangen war mit tiefen Angstgefühlen verbunden und kostete uns große Überwindung.
Meistens ging es um einfache handwerkliche Eingriffe bei Reparaturen von
Spielsachen oder um fachmännische Beratung - also um Anschubhilfe zur
Selbsthilfe. Der Onkel war der einzige Mensch weit undbreit, der in diesen
Dingen wirklich bewandert war. Mein Vater war ein handwerklicher Trottel erster
Güte - und war sowieso nicht vorhanden.
- MUSS DAS
JETZT GLEICH SEIN? fragte Onkel ONKEL gleich drohend zurück, wenn man ihn
bescheiden - bescheidenst! - um Hilfe bat.
Die Frage
war clever formuliert, ließ uns unsere Hilflosigkeit auf alle Fälle verstärkt
spüren.
- MUSS DAS
JETZT GLEICH SEIN?
- NEIN!
riefen wir unisono zurück und logen dabei aus einem guten Grund.
Die
Antwort »Ja« hätte bedeutet, daß wir eine Absage bis an unser Lebensende oder
bis zum übernächsten Weihnachtsfest bekommen hätten. Bei »Nein« hatten wir gute
Chancen, daß er uns half - und oft machte er sich tatsächlich sofort an die
Arbeit. Dabei hätte - wirklich wirklich, lieber Onkel, lieber Vater - alles
noch Zeit gehabt! Unser alberner Wunsch hätte - wirklich wirklich, lieber
lieber Onkel, lieber lieber Vater - auf KEINEN FALL SOFORT befriedigt werden
müssen! Wir hätten uns doch gern geduldet!
Aber Onkel
ONKEL war bereits am werkeln, mühte sich für uns in atemberaubendem Tempo ab.
Wunderbar! Und er war so geschickt dabei - er war gütig und unersetzlich. Er
war der Größte und als ein solcher kurzzeitig ein liebenswerter Mensch.
baue
keine bomben, spiele lieber fußball mit dem königssohn
Daß mein
dicker Vater ein faules und lebensuntüchtiges Großmaul, ein Kettenraucher und
Säufer geworden war, war die Schuld seiner zweifelhaften Freunde. Das
behauptete jedenfalls seine Mutter Ludmila, eine meiner drei bis vier
Großmütter. Analog dazu möchte ich für die Nachwelt festhalten, wer und was in
meinem Leben an meiner ungesunden Radikalisierung - bei gleichzeitiger
Ironisierung jeder Radikalität - schuld war: Es waren die Chinesen unter Mao
Zedong, der damals noch »Tse-tung« transkribiert wurde. Es war die chinesische
Propagandamaschinerie, die auch nach dem katastrophalen Scheitern des »Großen
Sprungs nach vorn« weiterlief und in der glorreichen Kulturrevolution
hochgefahren wurde. Es war aber nicht Mao allein, nicht nur Mao und seine
Partei - ich möchte diesen Massenmörder gern etwas entlasten: An meiner Formung
und Deformierung war noch eine junge Frau, nämlich die süße Nie Yuanzi, schwer
mitschuldig. Es war die zarte »NIE«, die den kulturrevolutionären Massensturm
von unten losgetreten und in vorderster Front vorangetrieben hatte. Die
eigentliche große Mittäterin von Mao - seine Frau Qing Jiang - beeindruckte
mich kaum, sie hielt sich sowieso eher im Hintergrund und war nicht besonders
schön.
Auch wenn
ich die Grundlagen für meine radikal ausgerichtete politische Bildung
hauptsächlich von meiner Mutter bezog, war die chinesische Walze, die sich
konsequent alle zwei Wochen erneuerte, nicht zu unterschätzen. Mein Weg zur
Schule führte jahrelang an der chinesischen Botschaft vorbei, entlang eines
langen gemauerten Zauns, an dem viele schmucke Glasvitrinen hingen. Sogar an
dreiStellen - links und rechts von zwei Einfahrten und links und rechts des
Personaleingangs. So ist für mich ein beachtlicher Teil meines
geistig-politischen Unterbaus zwangsläufig mit den flachen Gesichtern und den
niedlichen Strichaugen reizender Chinesinnen verbunden. Diese puppenartigen
Geschöpfe durfte ich täglich auf stark vergrößerten Bildern bewundern, jeden
Tag mindestens zweimal - und fast alle sahen dabei fast wie meine Favoritin Nie
Yuanzi aus. Diese erotisch aufgeladene Variante der Indoktrination konnte bei
mir auf keinen Fall ohne Folgen bleiben. Massenaufläufe ziehen mich seitdem
magisch an. Wobei ich versichern muß, daß sie mich
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