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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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hinunterbremsen, mußten sich außerdem
durch einige scharfe Kurven quälen. Sie schafften es nicht immer problemlos,
standen manchmal plötzlich lahm auf den Pflastersteinen der Serpentine und
verstellten den Autos den Weg. Einmal lag unter dem Stahlkoloß sogar ein Junge,
und es dauerte eine Ewigkeit, bis ein Lastkran kam und die Helfer und Ärzte den
Jungen befreien konnten. Beim Warten auf den Kran unterhielten sie sich mit
ihm, scherzten vorsichtig, und der Junge versuchte, vorsichtig zurückzulächeln.
Die alten Straßenbahnen bestanden aus einem Triebwagen und einem oder zwei
Anhängern. Diese angehängten Klapperkisten konnten - weil sie keine eigenen
Motoren besaßen - zwar bergauf empfindlich zur Last fallen, sie waren aber
nicht in der Lage, unabhängig Bremsstrom zu erzeugen. Die steile Abfahrt war
sowieso nicht ungefährlich, da sich beispielsweise in einer der Kurven einige
Weichen befanden. Eines Tages passierte das, wasirgendwann passieren mußte. Die
Straßenbahn wurde unterhalb des Belvederes (des Lustschlößchens der Königin
Anna) immer schneller, und die Fahrerin verließ sich auf die sonst immer
zuverlässige Bremsanlage - obwohl diese nicht mit mehreren Bremskreisen
ausgestattet war. Ihr schmaler und niedrig liegender Wagentyp - im Volksmund
»U-Boot« genannt - hatte etwas kleinere Räder als die rundlicheren Modelle, die
Strecke war naß, und beide Wagen waren voll besetzt. Die Fahrerin genoß das
Tempo viel zu lange, bis es irgendwann zu spät war. Bei der anschließenden
Vollbremsung sprang das Doppelgespann wie ein wütendes Walroß aus der ersten,
leider in der Kurve liegenden Weiche, fuhr auf der Pflasterung geradeaus und
kippte dabei um. Und bevor der Vorderwagen in die Stützmauer des Berghangs
krachte, hatte sich der Anhänger mehrmals überschlagen. Das Blut der
Passagiere, die aus den kaputten Fenstern und der offenen Plattform des
Anhängers hinausgeschleudert worden waren, verfärbte die Unglückskreuzung in
unterschiedlichen Rottönen. Und da es nicht sofort gerann, floß es in kleinen
Rinnsalen die abfallende Straße hinunter. Die düsteren Statuen des Mystikers
und Symbolisten Frantisek Bilek, die auf der gegenüberliegenden Seite der
Kreuzung vor Bileks ehemaliger Villa standen und dort immer noch stehen,
schauten dem Großereignis hocherregt zu.
    - Endlich
ein Schritt in die richtige Richtung! Auf zur Apokalypse! wieherte es lautlos
aus ihren aufgerissenen Mündern.
    Nachdem
die Verletzten abtransportiert worden waren, mußte die Kreuzung gesäubert
werden. Die Feuerwehr bespritzte die Pflasterung so lange und gründlich, daß
sich das gerötete Wasser bis nach unten ins Moldautal vorarbeiten konnte; es
rann durch die Rillen der Schienen und folgte brav auch den schärfsten Kurven.
Kurz vor der kleinseitner Haltestelle bildeten sich einige rote Pfützen. Seit
dem Großunfall wurden auf dieser abschüssigen Strecke mehrere Sicherheitsstops
eingerichtet, die später auch die neuzeitlichen Straßenbahnzüge einhalten
mußten.
    Diese
steile Schienenrutschbahn lag südlich meiner Wohnung, und ich hatte
ausgerechnet ihren brisantesten Streckenabschnitt und die zu ihm gehörenden
Gefahren pausenlos im Rücken - allerdings nicht in Sichtweite. Gelegentlich
konnte man die Bremsmanöver aber hören. Wenn ein Triebwagen quietschte,
daraufhin Bremssand auf die Schienen ejakulierte, kreischte er ganz sonderbar -
und machte dabei den Eindruck einer in Schreckstarre geratenen Kreatur.
    Völlig
anderer Natur war die Gefahr, die vom nordöstlich unserer Straße residierenden
Vulkan ausging. Im Vergleich zu diesem Unruheherd NUMMER ZWEI waren die
Achterbahnkunststücke unserer altertümlichen Straßenbahnen relativ harmlos.
Unser Vulkan konnte - wenn ihm danach war - die gesamte Gegend jederzeit und
urplötzlich in Schrecken versetzen. Als ich klein war, dachte ich in manchen
Zusammenzucksekunden, in der Nähe würde ein überdimensionierter Löwe hausen.
Der Vulkan füllte sich regelmäßig und hauptsächlich an den Wochenenden, er
füllte sich mit emotional aufgeheizter Lava und hieß Sparta Praha. Sparta war
einer der großen Prager Fußballklubs der (meistens jedenfalls) ersten Liga. Ich
kannte den Spielkessel allerdings nur von außen - sah immer nur die häßlichen
Rückseiten der hohen Holztribünen. Und auf mich wirkte das Ungetüm tatsächlich
wie ein zum Himmel geöffneter, stinkender und nicht begehbarer Berg. Ich
spielte zwar dauernd Fußball, in das Stadion ging ich aus gutem

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