Faktor, Jan
Grund aber nie.
Die darin brodelnde Menschenschmelze war mir unheimlich. Es konnte auch gar
nicht anders sein - das dort unter Druck stehende Magma machte jeden familiären
Zusammenhang lächerlich, negierte jede Individualität, verwirrte auch manche
gestandenen Kerle im Erwachsenenalter. Und mich prägte der Spartavulkan schon
seit meinen ersten Lebenstagen - es waren gewaltige Stoßseufzer von
Zehntausenden, Eruptionen eines Eintopfs aus miteinander verschmorten Seelen,
das Aufheulen eines riesigen Leviathans, der Siegesjubel eines aufgeputschten
Wasserkopfs ohne Gewissen, die mich bedrohten. Daß von diesem Vulkan eine
massengeballte Bedrohung ausging, war auf eine Entfernung von Hunderten von
Metern zu spüren. Man wußte einfach: Dieser ungeheuren Kraftmasse durfte sich
nichts in den Weg stellen, diese Masse würde - nachdem sie sich aus den mit
Bierrückständen vollgepißten Ausgängen ergossen hatte - alles Erdenkliche
niederwalzen. In dieser Masse hatte ein zartes Bürschchen wie ich nichts zu
suchen, besonders in den Jahren, wenn Sparta Praha in die zweite Liga
abgerutscht war. Wann die Spiele stattfanden, wußten wir nie, das Gebrüll
überraschte uns alle immer wieder von neuem. Wenn sich das Ungeheuer plötzlich
aufrichtete und seinen Riesenkopf in den Himmel oberhalb der Tribünen hob,
hörte man zeitversetzt:
-
HHHHHAAAAAAAAAAAAAAAÜ!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! Kurz bevor diese im Ton abfallende
Botschaft voller Enttäuschung (einer hatte sicher daneben geschossen) bei uns
ankam, drückte uns die dazugehörige Druckwelle die Vorhänge ins Zimmer.
-
HHHHHHHHHHHUUUUÜ!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! war kürzer. Es hieß eher, daß der Torwart
gehalten hatte. Genau wußte das aber niemand von uns.
Wenn die
Sparta-Mannschaft ein Tor (GGGOOOOOOO-OOLLLLLLLÜÜ!) geschossen hatte, gab es
einen Aufschrei, den schriftbildlich adäquat wiederzugeben leider unmöglich
ist. Zur Illustration dieser Tor-Ekstasen muß hier reichen, daß dabei von den
Dächern oft lockere oder gesprungene Dachziegel flogen.
Zu einer
Kindheit gehören robuste Kulissen, die im Gedächtnis nicht allzu leicht
zerbröseln oder sich von späteren Erinnerungen nicht kleinkriegen lassen. Neben
unserembarocken Tor, den üppigen Resten der Festungsmauern, den unzugänglichen
Hängen der Affenbande unterhalb der Parks im Süden (hinter der steilen Strecke
der Straßenbahn) waren es die monumentalen Gebäude der bislang noch nicht
erwähnten Militärakademie im Westen, die zu diesem Ensemble von Kulissen
zählten. Diese Akademie - die NUMMER DREI des besagten Fünfzacks - besaß ein
großes, gutbewachtes Areal, auf dem besonders fruchtbare und für uns
unerreichbare Kastanienbäume wuchsen. Sonnabend nachmittags konnte man in den
nahe dem Seiteneingang gelegenen Kinosaal gehen und sich einen Kriegsfilm
ansehen. Etwas anderes als Kriegsfilme zeigten die Militärs nie - ich wäre aber
trotzdem gern hingegangen, wenn ich nicht zu meinem Vater hätte pflichtfahren
müssen. Die Akademie - im Volksmund »Kadetka« genannt - lag in der Nähe der
Burg und war von meinem Haus etwa so weit entfernt wie das Stadion. Aufgrund
dieser strategisch ausgewogenen Lage gehörten zu meinem Leben - als Ausgleich
zu den Fußballfans - viele Offiziersanwärter und ihre ebenfalls uniformierten
Offiziersdozenten, die sich jeden Tag von den Straßenbahn- und Bushaltestellen
zum Unterricht schleppten. Mit meinen und Skopkas Knallgranaten ließen sich
nicht nur die Fußballfans aus dem Hinterhalt effekvoll attackieren, auch die
Männer in den grünen Ausgehuniformen zuckten ganz hübsch.
Nachdem
sich die nur dem müden Lernprozeß verpflichtete Soldateska aus den
Verkehrsmitteln ergossen hatte, lief sie meist wesentlich langsamer »zur
Arbeit« als die übrige arbeitende Bevölkerung. Von Marschieren oder wenigstens
würdigem Schreiten konnte bei diesen Auftritten nie die Rede sein. In den
Händen oder auf den Schultern der Männer sah man sowieso nie irgendwelche
Waffen, auch nicht an ihren Gürteln. Diese Soldaten trugen nur Aktentaschen,
Stoffnetze oder Papiertüten mit Brötchen und Speckwürstchen.Dazu muß man
wissen: Die Eliten unserer im Jahre 1939 aufgelösten Armee wurden während des
Protektorats gnadenlos dezimiert. Die entlassenen Offiziere hatten ihre
Strukturen für den konspirativen Widerstand genutzt und gingen in immer neuen
nachrückenden Wellen in die Folterkammern der Gestapo und in den Tod. Die
verbliebenen Reste, selbstverständlich auch die Rückkehrer aus den
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