Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
Vom Netzwerk:
Familienetage verließ, fühlte ich mich wie befreit und atmete auf.
Draußen auf der Straße war ich das chaotische Geliebtwerden für eine Weile los,
und hier hatte vieles eine gewisse, wenn auch nur sozialistisch bescheidene
Ordnung. Der Staat billigte seinen Untertanen kein wirkliches Mitspracherecht
zu, mußte aber trotzdem mit einer begrenzten öffentlichen Kontrolle rechnen.
Als die Bezirksverwaltung alle vorhandenen Geländer der denkmalgeschützten
Gegend bunt anstreichen ließ, gab es bei uns so etwas wie einen Bürgeraufstand.
Das vom Dreck erschwarzte und stark rostende Metall der Geländerrohre
erstrahlte plötzlich zwischen den einzelnen Pfosten in den Farben gelb, rot,
grün - gelb, rot, grün - gelb, rot, grün ... und abwechselnd immer so weiter.
Allerdings hatten sich die Anstreicher an zwei Stellen verzählt.
    Mehrere
Straßen der Umgebung - nicht nur meine - waren nur einseitig bebaut und hießen
nicht »Straße«, sondern »Basta«, was Bollwerk bedeutet. Die unbebaute Seite der
jeweiligen Basta bildete eine nach unten zum Verteidigungsgraben fallende
Backsteinmauer. Und auf den aus Stein gemeißelten Kronen dieser Mauern zogen
sich aus Sicherheitsgründen die gerade beschriebenen Geländerstrecken hin. Wenn
das Demonstrationsrecht - realsozialistisch das »Recht auf Straßenumzüge und
Manifestationen« genannt - damals nicht nur auf dem Papier existiert hätte,
hätten sich die Menschen sicher Parolen wie »Wir sind keine Papageien« oder »Ab
nach Bolivien« einfallen lassen. Das Murren des Volkes war nach dem
Pinselstreich der Verwaltung zum Glück laut genug - und die gelben und grünen
Abschnitte wurden nach und nach rot überpinselt, bis alles einheitlich Signalrot
war.
    Eigentlich
will ich aber auf etwas vollkommen Konträres hinaus: In unserer Gegend umgab
mich insgesamt viel mehr Harmonie und Schönheit, als sie in unserer Wohnung zu
finden waren. Die Rudimente meines Sinns für Ästhetik formten sich eventuell
dort unter freiem Himmel und nicht in irgendwelchen Museen oder Galerien.
Inmitten unseres häuslichen Gebrauchtmöbellagers war ästhetische Erziehung
sowieso nur als eine negativistische Widerstandsschulung möglich. Aber
aufgepaßt: Obwohl meine schöne Gegend unendlich viele Vorzüge hatte und in der
Nachkriegszeit nur geringfügig verschandelt wurde, war ihre Harmonie
trügerisch. Die äußere Aura, die ihr während der vergangenen Jahrhunderte
verliehen worden war und mit der sie alle Pragliebhaber problemlos beeindrucken
konnte, verdeckte einiges ausgesprochen geschickt.
    Wie
brisant die Lage und die weitergefaßte Topographie des Umfelds meiner Straße in
Wirklichkeit war, ist mir erst beim Schreiben dieses Kapitels aufgegangen. Bei
diesem additiven Rundumblick und beim Sortieren dessen, was zu der sonstigen
Gutmütigkeit der Gegend absolut nicht passen wollte, sind sogar die noch zu
beschreibenden Kommandoeinsätze der städtischen Müllarmee verblaßt. Und die
Selbstgefährdung beim Balancieren auf dem Kranzgesims des Stadttors hat auch
stark an Gewicht verloren. Je länger ich heute an die Umgebung meiner Wohnung
denke, desto klarer wird mir, daß ich zwischen realen Explosionsund
Implosionsherden oder seelischen Schwärestätten verfangen, von mehreren
Pulverfässern regelrecht umstellt war. Tatsächlich befand sich in jeder
Himmelsrichtung mindestens eine aktuelle Gefahrenquelle, ein Herd der aktiven
Gewaltausübung oder ein Ort, der der passiven Gewalt-Erwartung diente. Dieser
konkrete Ort erstreckte sich sogar bis in das Innere unserer Anhöhe und lag so
gut wie unterunseren Füßen. Und all das, was ich gerade aufgezählt habe, ist
durchaus wortwörtlich und räumlich konkret gemeint. Es gab hier sogar einen
Ort, an dem pausenlos Planspiele zur großflächigen Eliminierung feindlicher
Völker geschmiedet worden waren. Insgesamt an FÜNF SCHWERPUNKTEN ging es in
meiner Nähe, mittelbar oder unmittelbar, um Sterben, Zerstörung oder
Auslöschung. Ich bewegte mich damals, habe ich das Gefühl, im Innentrakt eines
neuzeitlichen Drudenfußes, auf den geometrisch nicht vorhandenen Achsen eines
magischen Fünfzacks. Zufälligerweise bestand ausgerechnet auch meine Straße -
weil sie der Festungsmauer folgte - aus fünf Abschnitten.
    Über den
fünfzackigen Belagerungsring, in dessen Zentrum meine viermal gebrochene Straße
stand, jetzt der Reihe nach.
    Die
Straßenbahnen mußten sich - um von der Burg bis zur Moldau zu kommen - eine
stark abschüssige Straße quietschend

Weitere Kostenlose Bücher