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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Hofdamen der Königin. Stehen Sie auf. Könnten wir einen Knicks bekommen? Danke. Nun, ich bin ein Page, der einen Schemel holt. Mit einem Kissen. Setzen Sie sich und schenken Sie den Räten ein Lächeln.«
    »Wenn Sie so gut sein wollen«, sagt Rafe unsicher, aber schon packt ihn der Reiz des Spieles. Er beugt sich vor und kitzelt Nennt-Mich unter dem Kinn. »Was haben Sie uns zu sagen, zarte Madam? Bitte, öffnen Sie Ihre rubinroten Lippen und erzählen Sie.«
    »Diese schöne Lady behauptet«, sagt er: er, Cromwell, mit einer Geste zu Nennt-Mich hin, »die Königin sei von loser Natur. Dass ihr Verhalten den Verdacht von Verfehlungen aufwirft, der Missachtung der Gesetze Gottes, selbst wenn niemand regelwidrige Taten beobachtet hat.«
    Rafe räuspert sich. »Wenn ich Sie also fragen darf, Madam, warum haben Sie nicht schon früher darüber gesprochen?«
    »Weil es Hochverrat gewesen wäre, gegen die Königin zu sprechen.« Mr   Wriothesley ist ein schneller Denker, und mädchenhafte Entschuldigungen fließen ihm über die Lippen. »Uns blieb keine Wahl, als sie zu decken. Was konnten wir tun, außer mit ihr zu reden und zu versuchen, sie von ihrer losen Art abzubringen? Doch es ging nicht. Sie schüchterte uns ein. Sie ist auf jede eifersüchtig, die einen Bewunderer hat, und will ihn ihr wegnehmen. Sie kennt keine Skrupel und bedroht alle, die, wie sie denkt, einen Fehler gemacht haben, ob ältere Lady oder junges Mädchen. Und sie kann eine Frau ruinieren, denken Sie nur an Lady Worcester.«
    »Und jetzt ertragen Sie es nicht länger und müssen die Stimme erheben?«, sagt Rafe.
    »Brechen Sie in Tränen aus, Wriothesley«, sagt er.
    »Ich bin tränennass.« Nennt-Mich betupft sich die Backen.
    »Was für ein Stück das ergibt.« Er seufzt. »Ich wünschte, wir könnten jetzt alle unsere Kostüme ausziehen und nach Hause gehen.«
    Er sieht Sion Madoc vor sich, einen Bootsmann auf dem Fluss in Windsor: »Sie macht es mit ihrem Bruder.«
    Thurston, seinen Koch: »Sie stehen in einer Reihe und wichsen ihre Schwänze.«
    Er muss an das denken, was Thomas Wyatt ihm erzählt hat: »Das ist Annes Taktik, sie sagt Ja, ja, ja, und dann sagt sie Nein … und das Schlimmste ist, dass sie dabei auf mich zeigt, dass sie fast damit angibt, zu mir Nein zu sagen, aber Ja zu anderen.«
    Er hatte Wyatt gefragt: Wie viele Liebhaber, denken Sie, hat sie gehabt? Und Wyatt hatte geantwortet: »Ein Dutzend? Oder keinen? Oder hundert?«
    Er selbst hat Anne immer für kalt gehalten, für eine Frau, die ihre Jungfernhaut zu Markte getragen und höchstbietend verkauft hat. Aber diese Kälte … das war vor ihrer Heirat. Bevor Henry sich auf sie hievte und wieder herunter und sie, nachdem er zurück in die eigenen Gemächer gestolpert war, allein mit den wabernden Kreisen des Kerzenlichts an der Decke über sich zurückblieb, mit dem Murmeln ihrer Frauen, der Schüssel warmen Wassers und dem Waschlappen und Lady Rochfords Stimme, während sie sich wäscht: »Vorsicht, Madam, waschen Sie sich keinen Prinzen von Wales aus dem Leib.« Bald ist sie allein im Dunkeln, mit dem Geruch männlichen Schweißes auf ihrem Bettzeug und vielleicht einer nutzlosen Zofe, die sich schniefend auf einer Pritsche hin und her dreht: allein mit den leisen Geräuschen von Fluss und Palast. Und sie sagt etwas, und niemand antwortet, außer dem Mädchen, das im Schlaf redet. Sie betet, und niemand antwortet, und sie rollt sich auf die Seite und fährt sich mit den Händen über die Schenkel, berührt die eigenen Brüste.
    Was, wenn es dann eines Tages heißt: Ja, ja, ja, ja, ja? Ganz gleich, wer auch immer gerade in der Nähe ist, als der Faden ihrer Tugend reißt? Selbst, wenn es ihr Bruder ist?
    Er sagt zu Rafe, zu Nennt-Mich: »Ich habe heute etwas gehört, wovon ich nie gedacht hätte, es in einem christlichen Land hören zu können.«
    Sie warten, die jungen Gentlemen, die Blicke auf seinem Gesicht. Nennt-Mich sagt: »Bin ich noch immer eine Lady, oder soll ich mich setzen und meine Feder zur Hand nehmen?«
    Er denkt: So wie wir es hier in England machen, so wie wir unsere Kinder in andere Haushalte schicken, wenn sie noch jung sind, ist es nicht selten, dass sich ein Bruder und eine Schwester erst als Erwachsene kennenlernen, als träfen sie sich zum ersten Mal. Stell dir vor, wie das sein muss: dieses faszinierende fremde Wesen zu sehen, das du doch kennst, dieses Spiegelbild von dir. Du verliebst dich, nur ein wenig: für eine Stunde, einen Nachmittag.

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