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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Zuschauer. Er selbst und Boleyn ergreifen die Hände des Opfers, Brereton und Weston packen die Füße. Zu viert stoßen sie die scharlachrote Gestalt hin und her, schütteln und treten sie. Vier Männer, die den Kardinal um eines Witzes willen zu einer Bestie machen. Die ihm seinen Geist, seine Menschlichkeit und seine Anmut nehmen, ihn zu einem heulenden Tier werden lassen, das über die Bretter kriecht und mit den Krallen scharrt.
    Es war natürlich nicht wirklich der Kardinal. Es war der Narr Sexton in einem scharlachroten Gewand. Aber das Publikum buhte, als wäre es die Wirklichkeit, die Leute schrien und drohten mit den Fäusten, sie fluchten und höhnten. Hinter der Bühne zogen sich die vier Teufel die Masken und die haarigen Wämser herunter, sie schimpften und lachten. Sie sahen Thomas Cromwell an der Vertäfelung lehnen, stumm und in schwarze Trauerkleider gehüllt.
    Norris starrt ihn an: »Deswegen? Es war ein Spiel, eine ›Unterhaltung‹, wie Sie selbst sagen. Der Kardinal war tot, er konnte es nicht sehen. Und als er noch lebte, war ich da nicht gut zu ihm in seinen Schwierigkeiten? Bin ich ihm da, als er vom Hofe ausgeschlossen wurde, nicht bis nach Putney Heath hinterhergeritten, mit einem Gunstbeweis des Königs?«
    Er nickt. »Ich gebe zu, dass andere schlimmer waren. Aber keiner von Ihnen, auch Sie nicht, hat sich wie ein Christenmensch benommen. Wie Wilde sind Sie über seine Liegenschaften und seine Besitztümer hergefallen.«
    Er sieht, dass er nicht fortfahren muss. Die Entrüstung auf Norris’ Gesicht ist blanker Angst gewichen. Wenigstens hat der Bursche genug Verstand, um zu verstehen, warum es hier geht, denkt er: nicht um den Groll eines oder zweier Jahre, sondern um einen großen Auszug aus dem Buch des Schmerzes, das er seit dem Fall des Kardinals mit sich herumträgt. Er sagt: »Das Leben zahlt Sie aus, Norris. Finden Sie nicht? Und«, fügt er ruhig hinzu, »es geht auch nicht allein um den Kardinal. Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich hätte keine eigenen Motive.«
    Norris hebt den Kopf. »Was hat Mark Smeaton Ihnen getan?«
    »Mark?« Er lacht. »Ich mag die Art nicht, wie er mich ansieht.«
    Würde Norris es verstehen, wenn er es ausspräche? Er braucht schuldige Männer. Und so hat er Männer gefunden, die schuldig sind. Wenn auch vielleicht nicht unbedingt im Sinne der Anklage.
    Stille senkt sich herab. Er sitzt da, er wartet, die Augen auf den sterbenden Mann gerichtet. Er überlegt bereits, was er mit Norris’ Ämtern machen wird, seinem ihm von der Krone überlassenen Land. Er wird versuchen, den Wünschen der bescheidenen Bittsteller nachzukommen, wie denen des Mannes mit den vierzehn Kindern, der für einen Park in Windsor verantwortlich werden und einen Posten in der Verwaltung des Schlosses haben möchte. Norris’ Ämter in Wales können dem jungen Richmond übertragen werden, was sie tatsächlich zurück zum König und unter seine eigene Aufsicht bringt. Und Rafe könnte Norris’ Besitz in Greenwich bekommen, könnte Helen und die Kinder dort unterbringen, wenn er bei Hofe zu sein hat. Edward Seymour hat erwähnt, dass er Norris’ Haus in Kew gern hätte.
    Harry Norris sagt: »Ich nehme an, Sie werden uns nicht gleich hinrichten lassen. Es wird vor Gericht gehen, einen Prozess geben? Ja? Ich hoffe, es geht schnell, und ich denke, das wird es. Der Kardinal hat immer gesagt, Cromwell tut in einer Woche, wofür andere ein Jahr brauchen. Es lohnt nicht, ihn aufhalten oder ihm auch nur entgegenarbeiten zu wollen. Wenn man ihn fassen will, ist er längst nicht mehr da, ist zwanzig Kilometer geritten, während man selbst kaum die Stiefel angezogen hat.« Er hebt den Blick. »Wenn Sie vorhaben, mich öffentlich zu töten, ein Spektakel zu veranstalten, beeilen Sie sich. Sonst könnte es sein, dass ich vorher aus Kummer allein hier in diesem Raum sterbe.«
    Er schüttelt den Kopf. »Das werden Sie nicht.« Er hat selbst einmal geglaubt, er könne aus Kummer sterben: Kummer um seine Frau, seine Töchter, seine Schwestern, seinen Vater und seinen Master, den Kardinal. Aber der Puls behält hartnäckig seinen Rhythmus bei. Du denkst, du kannst nicht weiteratmen, aber dein Brustkasten hat andere Vorstellungen, er hebt sich und senkt sich und stößt Seufzer aus. Gegen deinen Willen gedeihst du, und damit das geht, nimmt Gott dein Herz aus Fleisch aus dir heraus und gibt dir eines aus Stein.
    Norris fährt sich über die Rippen. »Der Schmerz ist hier. Letzte Nacht habe ich

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