Falken: Roman (German Edition)
immer noch den Glanz, den wir bei der Jugend so bewundern, das Funkeln und den klaren Blick. Es ist schwer, diese angenehme Person mit der Art von tierhaftem Verlangen zu verbinden, das seine Frau ihm vorwirft, und einen Moment lang sieht er George an und fragt sich, ob er überhaupt eines Vergehens schuldig sein kann, abgesehen von Stolz und Hochgefühl. Mit der Anmut seiner Erscheinung und seines Geistes hätte er über dem Hof und seinen verkommenen Machenschaften schweben können, ein edler Mann in seiner eigenen Sphäre, der Übersetzungen alter Dichter in Auftrag gibt und sie in erlesenen Ausgaben publiziert. Schöne weiße Pferde hätte er reiten können, die eine Kruppade springen und sich vor Ladies verneigen. Unglücklicherweise streitet er gern, prahlt, intrigiert und zeigt Menschen seine Verachtung. So wie wir ihn jetzt vorfinden, in diesem hellen, runden Raum im Martin Tower, wie er hin und her läuft und nach Streit hungert, fragen wir uns, ob er weiß, warum er hier ist? Oder steht ihm die Überraschung noch bevor?
»Ihnen ist vielleicht nicht viel vorzuwerfen«, sagt er, Thomas Cromwell, als er sich setzt. »Setzen Sie sich zu mir an den Tisch«, ordnet er an. »Man hat schon von Gefangenen gehört, die einen Pfad in den Stein getreten haben, aber ich glaube nicht, dass das wirklich möglich ist. Das würde wohl dreihundert Jahre dauern.«
Boleyn sagt: »Sie klagen mich einer Art von Absprache an, einer Verschleierung: dass ich eine Verfehlung meiner Schwester verborgen hätte. Aber die Anklage wird nicht standhalten, weil es keine Verfehlung gab.«
»Nein, Mylord, das ist nicht die Anklage.«
»Was denn?«
»Ihnen wird etwas anderes vorgeworfen. Sir Francis Bryan, ein Mann von großer Vorstellungskraft …«
»Bryan!« Boleyn wirkt entsetzt. »Aber Sie wissen, dass er mein Feind ist.« Seine Worte überschlagen sich. »Was hat er gesagt? Wie können Sie auch nur etwas von dem glauben, was er sagt?«
»Sir Francis hat es mir genau erklärt. Und ich fange an zu verstehen. Wie ein Mann seine Schwester kaum kennt und sie erst als erwachsene Frau trifft. Sie ist wie er, und doch wieder nicht. Sie ist ihm vertraut und regt doch seine Fantasie an. Eines Tages dauert seine brüderliche Umarmung etwas länger als normal. Von da an geht es weiter. Vielleicht haben beide nicht das Gefühl, etwas Falsches zu tun, bis eine Grenze überschritten ist. Wobei ich mir einfach nicht vorstellen kann, worin diese Grenze bestehen könnte.« Er macht eine Pause. »Hat es vor ihrer Heirat angefangen oder danach?«
Boleyn beginnt zu zittern. Er steht unter Schock. Er kann kaum sprechen. »Ich weigere mich, darauf zu antworten.«
»Mylord, ich bin es gewohnt, mit Leuten umzugehen, die mir eine Antwort verweigern.«
»Drohen Sie mir mit der Streckbank?«
»Nun, Thomas More habe ich auch nicht auf die Streckbank gebunden, oder? Ich habe in einem Raum mit ihm gesessen. Einem Raum hier im Tower, ganz wie dem, den Sie bewohnen. Ich habe auf das Murmeln in seinem Schweigen gelauscht. Daraus lassen sich Dinge schließen. So wird es gehen.«
George sagt: »Henry hat die Räte seines Vaters umgebracht. Er hat den Herzog von Buckingham umgebracht. Er hat den Kardinal vernichtet und in den Tod getrieben und einem von Europas großen Gelehrten den Kopf abgeschlagen. Jetzt will er seine Frau und ihre Familie töten, und dazu auch noch Norris, der einer seiner engsten Freunde war. Was lässt Sie denken, dass es Ihnen anders ergehen wird, dass Sie anders sind als diese Männer?«
Er sagt: »Es bekommt keinem aus Ihrer Familie gut, den Namen des Kardinals zu nennen. Oder den Thomas Mores, was das betrifft. Ihre Schwester brannte auf Rache. Sie hat zu mir immer gesagt: Was, Thomas More? Ist der noch nicht tot?«
»Wer hat diese Verleumdung gegen mich in die Welt gesetzt? Ganz sicher nicht Francis Bryan. War es meine Frau? Ja. Ich hätte es wissen sollen.«
»Sie machen diese Folgerung. Ich bestätige sie nicht. Sie müssen Ihrer Frau gegenüber ein schlechtes Gewissen haben, wenn Sie glauben, dass sie Grund genug hat, Sie zu hassen.«
»Wie können Sie etwas derart Ungeheuerliches glauben?«, bettelt George. »Auf das Wort einer Frau hin?«
»Es gibt andere Frauen, die Adressaten Ihrer Galanterien geworden sind. Ich werde diese Frauen nicht vor Gericht bringen, wenn ich es verhindern kann. Ich möchte sie schützen. Sie haben Frauen immer für austauschbar gehalten, Mylord, da können Sie sich nicht beschweren, wenn Sie
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