Falken: Roman (German Edition)
gefragt, ob wir nicht den Lordkanzler rufen sollten. Aber wenn ich es mir recht überlege, weiß ich eigentlich gar nicht, was der hätte tun sollen.«
»Mein Gedanke war«, gesteht er, »jemand sollte den Erzbischof von Canterbury holen. Ich glaube, ich dachte, der König dürfe nicht ohne dessen Beistand sterben. Stellen Sie sich den Versuch vor, Cranmer möglichst schnell über die Themse zu holen. Er würde Sie erst an einer Bibellesung teilnehmen lassen.«
Was sagt das Schwarze Buch? Nichts zu diesem Thema. Niemand hat einen Plan für den Fall entworfen, dass der König von einem Moment auf den anderen niedergestreckt wird, gerade noch auf dem Pferd und in vollem Galopp und eine Sekunde später in den Boden gestampft. Niemand wagt es. Niemand wagt daran zu denken. Wo das Protokoll versagt, geht es bis aufs Messer. Er erinnert sich an Fitzwilliam neben sich und an Richard, seinen Neffen. War es Richard, der half, den König aufzurichten, als der sich aufsetzen wollte, während die Ärzte riefen: »Nein, nein, lassen Sie ihn liegen!« Henry hielt die Hände auf die Brust gedrückt, als wollte er sich das Herz herauspressen. Hatte aufzustehen versucht, unartikulierte Geräusche von sich gegeben, die wie Worte klangen, aber keine waren, als wäre der heilige Geist auf ihn niedergekommen und spräche in Zungen. In plötzlicher Panik hatte er gedacht: Was, wenn er nie wieder einen vernünftigen Satz sagt? Was sagt das Schwarze Buch, wenn ein König den Verstand verliert? Draußen erinnert er sich an das Schreien von Henrys gestürztem Pferd, das darum kämpfte, wieder auf die Beine zu kommen. Aber das kann er doch gar nicht gehört haben? Sie müssen es doch getötet haben?
Dann brüllt Henry selbst. In jener Nacht reißt sich der König den Verband vom Kopf. Die Wunde, die Schwellung, ist Gottes Urteil über den Tag. Er ist entschlossen, sich seinem Hof zu zeigen, um allen Gerüchten entgegenzutreten, dass er Schäden davongetragen hat oder gar tot ist. Anne kommt zu ihm, gestützt von ihrem Vater, dem Monseigneur. Der Earl stützt sie wirklich und tut nicht nur so. Sie wirkt blass und gebrechlich. Jetzt ist ihr die Schwangerschaft anzusehen. »Mylord«, sagt sie. »Ich bete, ganz England betet, dass Sie nie wieder an einem Turnier teilnehmen.«
Henry winkt sie zu sich, winkt sie heran, bis ihr Gesicht ganz nahe bei seinem ist. Seine Stimme ist tief und kräftig: »Warum kastrieren Sie mich nicht gleich? Das würde Ihnen zupasskommen, habe ich recht, Madam?«
Gesichter öffnen sich erschreckt. Die Boleyns haben genug Verstand, Anne zurückzuziehen, zurück und hinaus. Mistress Shelton und Jane Rochford flattern um sie herum, machen »Tsss, tsss, tsss«, und der Howard-Boleyn-Clan schließt sich um sie. Jane Seymour, eine der Ladies, bewegt sich nicht mit. Sie steht da und sieht Henry an, und die Augen des Königs fliegen zu ihr. Ein Raum öffnet sich um sie, und einen Moment lang steht sie allein da wie eine Tänzerin, die den Anschluss verloren hat.
Später ist er bei Henry in dessen Schlafgemach. Der König hat sich auf einen samtbezogenen Stuhl fallen lassen. Henry sagt: Als Junge ging ich mit meinem Vater über einen Balkon in Richmond, eines Sommerabends gegen elf Uhr. Er hatte meinen Arm unter seinen geschoben, und wir waren tief im Gespräch, zumindest er. Und plötzlich gab es ein großes Krachen und Splittern, das ganze Gebäude ließ ein tiefes Stöhnen hören, und vor unseren Füßen brach der Boden weg. Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen, wie wir da am Abgrund standen und die Welt unter uns verschwand. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich hörte: Brachen da Holzbalken oder unsere Knochen? Beide standen wir durch Gottes Gnade noch auf festem Boden, und doch hatte ich mich hinabstürzen sehen, tief, tief in das Loch vor uns, bis ich auf die Erde traf. Feucht wie ein Grab roch sie. Nun … als ich heute gestürzt bin, war es genauso. Ich hörte Stimmen. Sehr fern. Einzelne Worte waren nicht auszumachen. Ich fühlte mich durch die Luft getragen. Gott habe ich nicht gesehen. Auch keine Engel.
»Ich hoffe, Sie waren nicht enttäuscht, als Sie aufwachten. Nur Thomas Cromwell zu sehen.«
»Ihr Anblick war mir nie willkommener«, sagt Henry. »Ihre eigene Mutter war am Tag Ihrer Geburt nicht glücklicher, Sie zu sehen, als ich heute.«
Ein paar Bedienstete gehen auf leisen Sohlen ihren Pflichten nach und besprenkeln das Bett des Königs mit Weihwasser. »Vorsicht«, sagt Henry verärgert.
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