Falken: Roman (German Edition)
mehr unbeaufsichtigt lassen, keine frische Tinte an der Luft. »Wen muss ich diesmal erwecken?«
Du weißt, wie es ist, wenn sich ein Wagen auf der Straße überschlägt? Jeder, den du triffst, hat es gesehen. Sie haben gesehen, wie einem Mann das Bein abgetrennt wurde. Sie haben eine Frau ihren letzten Atemzug tun sehen. Sie haben die Plünderer gesehen, haben gesehen, wie sie sich hinten am Wagen bedienten, während vorn der Kutscher zerquetscht wurde. Sie haben gehört, wie ein Mann seine letzte Beichte herausgebrüllt hat, während ein anderer flüsternd seinen letzten Willen kundtat. Und wenn alle Leute, die behaupten, dabei gewesen zu sein, wirklich dabei gewesen wären, wäre Londons gesamter Abschaum an diesem einen Ort versammelt gewesen, die Gefängnisse ohne Diebe, die Betten ohne Huren, und sämtliche Anwälte hätten auf den Schultern sämtlicher Metzger gestanden, um besser sehen zu können.
Später an diesem Tag, dem 29. Januar, wird er unterwegs nach Greenwich sein, erschreckt und besorgt wegen der Nachricht, die Fitzwilliams Männer gebracht haben. Die Leute werden ihm sagen: »Ich war dabei, ich war da, als Anne ihre Rede unterbrach, war da, als sie ihr Buch weglegte, ihre Stickerei, hörte ihre Laute, als ihre heitere Stimmung, jetzt, wo Katherine unter der Erde lag, mit einem Mal wie weggewischt war. Ich habe gesehen, wie ihr Ausdruck wechselte. Wie sich die Ladys um sie sammelten. Wie sie von ihnen in ihr Gemach gebracht und die Tür verriegelt wurde. Ich habe die Blutspur gesehen, die sie auf dem Boden zurückgelassen hat.«
Wir müssen das nicht glauben. Müssen nicht an die Blutspur glauben. Vielleicht haben sie die in ihrer Einbildung gesehen. Wann haben die Schmerzen der Königin begonnen?, wird er fragen, aber niemand wird es ihm sagen können, obwohl doch alle so genau über den Vorfall Bescheid wissen. Sie haben sich auf die Blutspur konzentriert und die Umstände vergessen. Es dauert den ganzen Tag, bis die schlechte Nachricht aus dem Gemach der Königin dringt. Manchmal bluten Frauen, doch das Kind klammert sich fest und wächst weiter. Diesmal nicht. Katherine ist noch zu frisch in ihrem Grab, um ruhig zu liegen. Sie hat den Arm ausgestreckt und Anne das Kind herausgerüttelt. So ist es zu früh auf die Welt gekommen, nicht größer als eine Ratte.
Abends sitzt die Zwergin vor den Räumen der Königin auf den Fliesen und wiegt sich stöhnend vor und zurück. Sie tut so, als hätte sie Wehen, sagt jemand unnötigerweise. »Kann man sie nicht hier wegschaffen?«, fragt er die Frauen.
Jane Rochford sagt: »Es war ein Junge, Mr Sekretär. Sie war kaum im vierten Monat, nehmen wir an.«
Anfang Oktober also. Da waren wir noch unterwegs. »Sie werden den Reiseplan haben«, murmelt Lady Rochford. »Wo war sie da?«
»Macht das einen Unterschied?«
»Ich sollte doch denken, dass Sie gern Bescheid wüssten. Oh, ich weiß, dass sich die Pläne manchmal von einem Moment auf den anderen geändert haben. Dass sie manchmal beim König war, manchmal nicht, dass manchmal Norris bei ihr war und manchmal andere Gentlemen. Aber Sie haben recht, Master Sekretär. Es will nichts besagen. Die Ärzte können sich kaum sicher sein. Wir können nicht sagen, wann es gezeugt wurde. Wer zu der Zeit da war und wer nicht.«
»Vielleicht sollten wir es dabei belassen«, sagt er.
»Hmm. Und jetzt, da die Ärmste eine weitere Chance verpasst hat … was soll da werden?«
Die Zwergin rappelt sich hoch. Sie sieht ihn an, hält seinen Blick gefasst und hebt die Röcke. Er kann nicht schnell genug wegsehen. Sie hat sich rasiert, oder jemand anders hat sie rasiert, und ihr Geschlecht ist nackt wie das Geschlecht einer alten Frau oder eines Kindes.
Später vor dem König hält Jane Rochford Mary Sheltons Hand und wirkt völlig unsicher. »Das Kind schien ein Junge zu sein«, sagt sie, »und etwa fünfzehn Wochen alt.«
»Wie meinen Sie das, schien ein Junge zu sein ?«, fragt der König. »War das nicht klar? Ach, gehen Sie, Frau, Sie haben nie ein Kind geboren, was wissen Sie schon? Es hätten Matronen bei ihr sein sollen, was haben Sie da gemacht? Könnt ihr Boleyns nicht jemand Nützlicherem Platz machen, müsst ihr im Weg stehen, wann immer es ein Unglück gibt?«
Lady Rochfords Stimme zittert, aber sie bleibt fest. »Ihre Majestät sollte mit den Ärzten sprechen.«
»Das habe ich.«
»Ich wiederhole nur deren Worte.«
Mary Shelton bricht in Tränen aus. Henry sieht sie an und sagt kleinlaut:
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