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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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der Nacht geschnittenes Fragment. Wenn ich je verschwinden muss, sagt er, werde ich es hier tun.
    Aber das ist lange her und war in einem anderen Land. Jetzt steht Rafe Sadler mit einer Nachricht da: Er muss zurück nach Greenwich, zurück in diesen nasskalten Morgen, der Regen hält sich gerade noch zurück. Wo mag Karl-Heinz heute sein? Wahrscheinlich ist er tot. Seit jener Nacht, da er die Göttin an der Wand aufwachsen sah, hat er vor, selbst eine in Auftrag zu geben, nur hat immer anderes – Geld verdienen, Gesetze entwerfen – seine Zeit in Anspruch genommen.
    »Rafe?«
    Rafe steht in der Tür und sagt nichts. Er sieht in das Gesicht des jungen Mannes. Seine Hand lässt die Feder los, Tinte spritzt aufs Papier. Er steht auf und zieht seinen pelzbesetzten Mantel um sich, als könnte er ihn vor dem schützen, was jetzt kommt. Er sagt: »Gregory?«, und Rafe schüttelt den Kopf.
    Gregory ist gesund. Er ist nicht geritten.
    Das Turnier wurde unterbrochen.
    Es ist der König, sagt Rafe. Es ist Henry, er ist tot.
    Ah, sagt er.
    Er trocknet die Tinte mit feinem Staub aus einem knöchernen Kästchen. Da ist alles voller Blut, ohne Frage, sagt er.
    In der Hand hält er ein Geschenk, das man ihm einst gemacht hat, einen türkischen Dolch aus Eisen, das Heft mit eingravierten Sonnenblumenmustern. Bis jetzt war er für ihn immer ein Dekorationsobjekt, eine Kuriosität. Er steckt ihn sich unter den Mantel.
    Später wird er sich erinnern, wie schwer es war, durch die Tür zu gehen und die Füße auf den kippenden Boden zu setzen. Er fühlt sich kraftlos, es ist wie ein Nachhall der Schwäche, die ihn überkommen hat, als er die Feder fallen ließ und dachte, es sei etwas mit Gregory. Er sagt sich, es ist nicht Gregory. Aber er ist wie benommen, kann die Nachricht noch nicht richtig verstehen, als hätte er selbst einen tödlichen Stoß erlitten. Ob er vorpreschen und versuchen soll, die Befehlsgewalt zu übernehmen? Oder ist es besser, den Augenblick zu nutzen, vielleicht die letzte Möglichkeit, die Bühne zu verlassen: zu fliehen, bevor die Häfen blockiert sind – um wohin zu gehen? Vielleicht nach Deutschland? Gibt es ein Fürstentum, einen Staat, in dem er vor Kaiser und Papst sicher wäre? Vor dem neuen Herrscher Englands, wer immer das sein mag?
    Er ist nie zurückgewichen, bis auf einmal vielleicht, vor Walter, als er sieben Jahre alt war und Walter auf ihn eindrang. Seit damals: immer nur vorwärts, vorwärts, en avant ! So zögert er nicht lange, wird hinterher aber keine Erinnerung haben, wie er in das vornehme, güldene Zelt gekommen ist, bestickt mit dem Wappen und den Emblemen Englands, zur Leiche König Henrys  VIII . von England. Rafe sagt, das Turnier hatte noch nicht angefangen, er ritt auf den Ring zu, und die Spitze seiner Lanze traf ins Innere des Kreises. Da strauchelte das Pferd unter ihm, Tier und Reiter fielen, das Pferd schrie, rollte und begrub Henry unter sich. Der sanftmütige Norris kniet neben der Bahre, betet, Tränen strömen ihm übers Gesicht. Verwischtes Licht leuchtet auf Brustpanzern auf, Helme verbergen Gesichter, eiserne Kiefer, Froschmäuler, Visierschlitze. Jemand sagt, das Tier ging zu Boden, als hätte es sich ein Bein gebrochen, niemand war in der Nähe, niemanden trifft Schuld. Er glaubt, das entsetzliche Geräusch des Sturzes zu hören, den Schreckensschrei des Pferdes, als es fällt, den Schrei der Zuschauer, das knirschende Rasseln des Stahls, das Auftreffen der Hufe auf Stahl, als sich zwei mächtige Kreaturen verschränken, Ross und König gemeinsam fallen, Metall in Fleisch dringt, Huf in Knochen.
    »Holt einen Spiegel«, sagt er, »und haltet ihn dem König vor die Lippen. Holt eine Feder, um zu sehen, ob sie sich bewegt.«
    Der König ist aus seiner Rüstung geholt worden, trägt aber noch die schwarze, gepolsterte Turnierjacke, wie in Trauer um sich selbst. Blut ist keines zu sehen, und so fragt er: Wo ist er verletzt? Jemand sagt, er hat sich den Kopf angeschlagen. Mehr kann er aus dem Jammern und Klagen nicht heraushören, welches das Zelt erfüllt. Federn, Spiegel, sie geben ihm zu verstehen, dass beides schon probiert wurde. Zungen lärmen wie Glockenklöppel, Augen liegen wie Kiesel in den Köpfen, ein erschrecktes Gesicht wendet sich dem nächsten zu, Flüche werden gemurmelt, Gebete, und sie bewegen sich langsam, langsam. Niemand will den Toten nach drinnen tragen, es ist zu viel, um es auf sich zu nehmen, wird gesehen, wird berichtet. Es ist falsch zu

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