Falken: Roman (German Edition)
verbreitet, bevor wir da sind, werden wir Mary nie lebend wiedersehen.« Ihre Aufpasser werden sie nicht an der Treppe aufhängen, sie werden sie nicht erstechen, aber sie werden dafür sorgen, dass ihr ein Unfall zustößt. Dass sie sich auf der Straße den Hals bricht. Wenn Annes ungeborenes Kind dann ein Mädchen ist, wird Elizabeth Königin, da wir sonst niemanden haben.
Fitzwilliam sagt: »Warten Sie, lassen Sie mich nachdenken. Wo ist Richmond?« Der Bastard des Königs, sechzehn Jahre alt. Er ist ein Handelsgut, mit ihm muss gerechnet werden, er ist in Verwahrung zu nehmen. Richmond ist Norfolks Schwiegersohn. Norfolk muss wissen, wo er ist, Norfolk bekommt ihn am ehesten zu fassen, kann mit ihm handeln, ihn einsperren oder freilassen. Er, Cromwell, fürchtet keinen unehelichen Jungen, und im Übrigen mag ihn der junge Mann. Wann immer sie miteinander zu tun hatten, hat er ihm Butter ums Maul geschmiert.
Norfolk schwirrt wie wild umher, wie eine aufgescheuchte Wespe, und die Umstehenden weichen auch vor ihm zurück, als wäre er eine, weichen zurück und treten wieder vor. Der Herzog schwirrt zu ihm, und er, Cromwell, verscheucht ihn. Er starrt Henry an. Er glaubt, er hat ein Lid zucken sehen, aber vielleicht war es nur Einbildung. Es reicht. Er steht über Henry wie eine Statue auf einem Grab: ein breiter, stummer, hässlicher Behüter. Er wartet, dann sieht er das Zucken wieder, wenigstens denkt er, dass er es sieht. Sein Herz macht einen Sprung. Er legt eine Hand auf die Brust des Königs, schlägt darauf wie ein Kaufmann, der einen Handel abschließt. Sagt ruhig: »Der König atmet.«
Ein unheiliges Gebrüll bricht los. Etwas zwischen einem Stöhnen, einem Jubelschrei und einer erschreckten Klage, ein Ruf zu Gott, ein Schlag gegen den Teufel.
Unter der Jacke, unter dem Pferdehaarpolster, ein Flimmern, ein Erzittern, Leben: Die Hand auf der königlichen Brust, hat er das Gefühl, Lazarus von den Toten zu erwecken. Als brächte seine Hand, magnetisiert, Henry das Leben zurück. Der Atem des Königs, geht er auch flach, scheint stetig. Er, Cromwell, hat die Zukunft gesehen. Er hat England ohne Henry gesehen und betet laut: »Lang lebe der König.«
»Holt die Ärzte«, sagt er. »Holt Butts. Holt jeden einzelnen Mann, der etwas versteht. Wenn er wieder stirbt, wird ihnen niemand die Schuld geben. Mein Wort darauf. Holt mir Richard Cromwell, meinen Neffen. Holt einen Hocker für Mylord Norfolk, er hat einen Schock erlitten.« Er ist versucht, hinzuzufügen: Schüttet einen Eimer Wasser über den sanftmütigen Norris, dessen Gebete, wie er Zeit hat zu bemerken, eindeutig papistischer Natur sind.
Das Zelt ist so voll, dass es aus der Verankerung gehoben und von den Köpfen der Männer getragen zu werden scheint. Er wirft einen letzten Blick auf Henry, bevor dessen daliegende Gestalt unter den Handreichungen von Ärzten und Priestern verschwindet. Er hört ein langes, würgendes Keuchen, so etwas hat man auch schon von Leichen gehört.
»Atmen«, ruft Norfolk. »Lasst den König atmen!« Und als gehorchte er, holt der gefallene Mann tief, saugend und kratzend Luft. Und dann flucht er. Und dann versucht er sich aufzusetzen.
Es ist vorüber.
Noch nicht ganz: nicht, bevor er die boleynschen Gesichter rundum studiert hat. Sie wirken starr, irritiert, verkniffen in der bitteren Kälte. Die große Stunde ist vorüber, bevor sie Wirklichkeit geworden ist. Wie sind sie alle so schnell hergekommen? Und von wo?, fragt er Fitz. Erst da wird ihm bewusst, dass das Licht weniger wird. Was sich wie zehn Minuten angefühlt hat, muss zwei Stunden gedauert haben: zwei Stunden, seit Rafe in der Tür stand und er die Feder aufs Blatt hat fallen lassen.
Er sagt zu Fitzwilliams: »Natürlich ist es nie passiert. Und wenn, war es ein Vorfall ohne Bedeutung.«
Für Chapuys und die anderen Botschafter wird er bei seiner ursprünglichen Version bleiben: Der König ist gefallen, ist mit dem Kopf aufgeschlagen und war zehn Minuten lang bewusstlos. Nein, wir dachten zu keiner Minute, dass er tot sei. Nach zehn Minuten hat er sich aufgesetzt. Und es geht ihm bestens.
So wie ich es erzähle, sagt er zu Fitzwilliam, könnten Sie denken, dass ihm der Schlag auf den Kopf gutgetan hat. Dass er es tatsächlich darauf abgesehen hatte. Dass jeder Monarch von Zeit zu Zeit einen Schlag auf den Kopf braucht.
Fitzwilliam ist belustigt. »Die Gedanken eines Mannes halten in solch einer Situation kaum einer Prüfung stand. Ich habe mich
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