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Falkengrund Nr. 29

Falkengrund Nr. 29

Titel: Falkengrund Nr. 29 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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durchdringen. Isabel kroch durch das Loch im Boden hinab.
    Ihre Augen schlossen sich geblendet und öffneten sich langsam wieder. Tausend Eindrücke, die sie nicht verstand. Intensive Gerüche, die sie an etwas erinnerten.
    Weihnachten.
    Was war Weihnachten ?
    Sie kannte keine Wörter, keine Begriffe. Wirklich? Hatten die Dinge nicht alle Namen gehabt, vor langer, langer Zeit?
    Sie sah ein grünes Gebilde mit Lichtern daran – Kerzen – und roch Zimt . Götter – Menschen – saßen im Kreis. Das alles nahm sie von oben wahr, aus der Vogelperspektive. Aber sie war doch kein Vogel. Sie war eine …
    Isabel breitete die Arme aus, strich über eine glatte Oberfläche. Tapete. Das war das Wort wieder. Wand – Papier – Tapete. Nein, dies war keine Wand. Dies war eine Decke. Und ihr eigener Körper wuchs aus dieser Decke heraus, steckte halb im Stockwerk darüber und halb in jenem darunter.
    Das war doch … überhaupt nicht … nicht …
    Die Menschen unter ihr bemerkten sie nicht. Sie unterhielten sich. Lachten.
    Isabel erkannte ein vertrautes Muster in ihrer Nähe. An einer Wand stand ein hohes Regal. Die unteren Fächer waren mit zahlreichen Gegenständen gefüllt – Gegenstände, deren Namen allmählich zu ihr zurückkehrten. Im obersten Fach befand sich fast nichts. Es war so hoch, dass die Menschen es nicht erreichen konnten, ohne auf eine Leiter zu steigen. Und ganz nahe an der Wand stand ein Behälter. Das Muster kannte sie. Und sie wusste jetzt auch, dass es sich um eine Blechdose handelte. Eine Teedose, um genau zu sein.
    „Geldinderzuckerdose – Geld in der Zuckerdose.“
    Nein, eine Zuckerdose war es nicht. Da gab es Unterschiede. Wie sie auf einmal wieder alles unterscheiden konnte! Aber die Faszination beim Ansehen von Gegenständen verschwand allmählich. Die Nüchternheit kehrte zurück.
    Von der Stelle aus, wo sie aus der Decke ragte, konnte sie die Dose erreichen, wenn sie sich streckte. Sie nahm sie an sich, achtete darauf, dass sie ihr nicht aus den Fingern glitt. Wollte sie öffnen, aus Neugier vielleicht, oder um endlich etwas von den Leckereien zu probieren, die in ihrem Inneren warteten.
    Da entdeckte sie das Blut, das von ihrem Körper rann. Hinab in den Raum tropfte. Auf die Lehnen der schweren Ohrensessel. Auf den Teppichboden und den Baum.
    Jetzt sah sie das Blut mit anderen Augen. Eine furchtbare Angst erfüllte sie, als müsse sie im nächsten Augenblick sterben. Der teure Lebenssaft floss aus ihrem Leib, und sie hing mit dem Kopf nach unten wie ein abgestochenes Schwein.
    Die Dose drohte aus ihrer Hand zu gleiten, und sie war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.
    In diesem Moment spürte sie einen kraftvollen Zug nach oben.
    Jemand zerrte an ihren Füßen, riss sie durch die Decke hindurch nach oben.
    Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie nichts. Bis ihr jemand mit einem nassen Lappen das Blut aus dem Gesicht wischte.
    Isabel erkannte Jaqueline und Dorothea. Dorothea war so deutlich zu sehen wie nie zuvor.
    Als ihr Kopf kraftlos zur Seite kippte, erkannte sie die Dose.
    Die Teedose war ihr nicht aus der Hand geglitten. Sie hatte sie mitgebracht.
    „Mach … sie … auf“, keuchte sie. Ihr war nach einer Stärkung zumute.
    Dorothea kam der Aufforderung nach. In der Dose befand sich nichts Essbares. Sie war vollgestopft mit D-Mark-Scheinen.

    DER SCHATZ! DER SCHATZ!
    DAS GELD WAR IN DER TEEDOSE VERSTECKT! IN DER TEEDOSE! IN DER …
    GUT. GUT. WIR LESEN WEITER.

10
    Jaqueline und Dorothea hatten Isabel zuerst in die Badewanne gesteckt und ihr das Blut abgewaschen. Dann hatten sie den Erste-Hilfe-Kasten des Autos geplündert und die Hälfte des Inhalts über Isabel verteilt. Das Jod war dabei komplett draufgegangen, sämtliche Pflaster und Verbände ebenfalls, von dem Schmerzmittel ganz zu schweigen.
    Nach einer guten Stunde des Verarztens lag die Studentin auf der kleinen Couch im Büro und erholte sich von ihrem Abenteuer. Die rothaarige Katze hatte sich längst wieder eingefunden. Gelassen verfolgte das Tier die Situation.
    „Das hätte leicht ins Auge gehen können“, meinte Jaqueline. Dass sie damit sich selbst anklagte, war nicht zu überhören. „Ich hatte gedacht, die Kommunikation mit der Katze ginge etwas weniger dramatisch vor sich.“
    „Sie hat mich in ihre Erinnerungen hineingezogen, in eine vollkommen andere Welt. Nein, unsere Welt, aber mit anderen Augen betrachtet. Ich habe mitangesehen, wie sie …“, Isabel betrachtete

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