Falkengrund Nr. 29
gedankenverloren ihre Bandagen, „… wie sie Rosa Birk fraß. Ich begriff gar nicht recht, was sie tat. Für mich war es etwas Großes, Mystisches … ich hatte bei allem das Gefühl, ich hätte es mit Vorgängen von tiefer religiöser Bedeutung zu tun.“
Jaqueline hatte denselben abwesenden Blick. „Wahrscheinlich ist das die Art und Weise, wie Tiere die Welt erleben. Als etwas Wundervolles, Ergreifendes, ohne Routine und grauen Alltag.“
„Ihr Sohn – für mich ein staubiger, riesiger Gott – hatte die Gewohnheit, die Dose zu verstecken, in der die alte Frau Birk die Leckereien für ihre Katze aufbewahrte. Die Katze fand sie immer wieder, und schließlich drehte sie den Spieß um. Sie begann sie selbst zu verstecken, damit der Sohn sie nicht mehr finden konnte. Als sie dies zum letzten Mal tat, hatte die Dose einen anderen Inhalt bekommen. Rosa Birk hatte darin ihre Ersparnisse versteckt. Zuvor hatte sie sie in der Zuckerdose verstaut, doch ihr Sohn warnte sie, jeder Einbrecher würde es dort leicht finden. Die Fantasie der alten Dame reichte nicht weit genug, um sich ein wirklich gutes Versteck auszudenken. Von der Zuckerdose kam sie auf die Teedose.“
„Womit wir das Rätsel des verschwundenen Geldes gelöst haben“, meinte Jaqueline. „Wir hatten uns gewundert, warum die Katze Geld verstecken sollte. Sie hatte nur die Dose versteckt, in der sie weitere Leckereien vermutete. Und das weder in der Wohnung noch in den Wänden.“
„Sondern in der Wohnung unter uns. Dort hat sie bis heute niemand entdeckt. Ich hoffe nur, mich hat wirklich niemand gesehen. Irgendwann wird man auf das Blut auf dem Teppich aufmerksam werden.“
„Keine Sorge“, beruhigte Jaqueline sie. „Menschen lassen sich für solche Dinge irgendwelche Erklärungen einfallen.“ Sie wühlte im Inhalt der Teedose. Von 1000-DM-Noten bis hin zu 10-DM-Scheinen war alles vertreten. Ohne alles genau gezählt zu haben, ging sie von einer niedrigen sechsstelligen Summe aus.
Dorothea reichte Isabel ein Glas Wasser. „Ich werde das nie vergessen“, krächzte die schwarzhaarige Studentin. Jaqueline hatte ihr eine Jacke übergeworfen, die sie in dieser Wohnung gelassen hatte. Isabels Kleider waren in Fetzen.
Dorothea räumte die übriggebliebenen Medikamente in den Verbandskasten zurück. „Eines verstehe ich immer noch nicht“, sagte sie. „Warum konnte Isabel mit der Katze kommunizieren? Wir haben uns doch auch Mühe gegeben, haben sie angesprochen, uns mit ihr anzufreunden versucht. Und sie kommt einfach herein, und – zack! – versinkt sie in den Erinnerungen der Katze …“
„Ich sagte doch, Isabel hat eine Gemeinsamkeit mit ihr“, lächelte Jaqueline.
„Habe ich das?“, fragte Isabel erstaunt. Zusammen mit Dorothea sah sie ihre Kommilitonin an.
„Erinnerst du dich nicht mehr an deinen letzten Geburtstag?“
Isabels Gesicht verdüsterte sich. Wie hätte sie diesen Tag vergessen können? Damals hatte sie sich den Liebestrank zubereitet, Jaqueline hatte sie durchschaut, vor allen bloßgestellt, und …
„Der Liebestrank!“, rief sie.
Jaquelines Lächeln verbreiterte sich. „Der Liebestrank enthielt einige ziemlich kuriose Zutaten“, erklärte sie. „Unter anderem …“
„… die Leber einer schwarzen Katze!“
„Richtig. Du hast also von einer Katze gegessen. Diese Katze hier hat einen Menschen verspeist. Ich hatte gleich so eine Ahnung, dass euch das irgendwie zu Schwestern machen würde.“
„Schwestern …“ Isabel blickte zur Katze hinüber. Diese leckte sich die Pfoten, sah nun viel zugänglicher, gewöhnlicher aus als zuvor. Sie schien die Menschen keines Blickes zu würdigen, doch wie es bei Katzen so war, hatte sie sie natürlich alle genau im Auge. „Mir kommt da ein Gedanke. Glaubt ihr, die Katze würde mit mir nach Falkengrund umziehen? Sie muss hier ziemlich einsam sein.“
Jaqueline hob die Augenbrauen. „Artur dürfte davon aber nicht sehr begeistert sein.“
„Artur?“
„Sein Schutzengel ist ein Hundegeist – und verträgt sich nicht mit dieser Katze.“
„Das stimmt“, meinte Dorothea. „Als die beiden hier aufeinander trafen, wäre es beinahe zu einer Katastrophe gekommen. Artur kam noch einmal mit einem blauen Auge davon.“
„Artur …“, wiederholte Isabel noch einmal nachdenklich. „Artur …“ Dann hob sie den Blick wie ein Mensch, der eine wichtige Entscheidung getroffen hatte. „Ich glaube, ich werde sie Abigail nennen. Ich wollte schon immer eine Katze namens
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