Falkengrund Nr. 29
ihrer Wohnung?“ Womöglich unter der zünftigen Eckbank, auf der er gesessen hatte? Er musste lachen. Das helle Gebäude der Direktion kam in Sicht. „Wenn es dich beruhigt, Sancho, werde ich veranlassen, dass sich unsere Leute mal die Wohnung der Reisäcker ansehen. Ansonsten bin ich jetzt einfach mal gespannt auf die Ergebnisse der Blutuntersuchungen und der Spurensicherung. Vielleicht haben wir ja Glück, und Opfer und Täter haben uns ein paar stinknormale, altmodische Fingerabdrücke hinterlassen. Godfredson war mit seinem Pülverchen in allen Ecken zugange.“
Sie betraten das Gebäude, setzten sich in ihr Büro. „Ich habe das Gefühl, dass das Opfer nicht Schranz ist“, meinte Fachinger nach langem Schweigen. „Möglich, dass er sich tatsächlich in der Dom-Rep aufhält. Wir sollten alle Fluggesellschaften abklappern, die Flüge dorthin anbieten.“
„Das übernehme ich!“, erklärte Faro diensteifrig und fuhr seinen Computer hoch.
2
Am Abend, kurz vor Dienstschluss, kam Godfredson herein. Er hatte die Tüte mit dem Schraubenzieher in der Hand. Das Werkzeug war jetzt sauber – die Leute im Labor hatten offenbar das Blut abgekratzt. Der Schwede nahm den Schraubenzieher mit bloßen Händen heraus und legte ihn auf Fachingers Schreibtisch. Der Hauptkommissar griff danach, drehte ihn in den Fingern, betrachtete ihn. Ein unbeschreibliches Gefühl der Macht durchflutete ihn dabei. Es war ein wenig wie am Morgen, als er so unvermittelt von seiner Erkältung genesen war. Nun war er gesund – keine Beschwerden mehr – und fühlte sich, als könne er noch ein wenig mehr als gesund werden, wenn er den Schraubenzieher nur länger in der Hand hielt. Doch die Empfindung ließ nach, und er zweifelte daran, sie je gehabt zu haben. Etwas verstimmt reichte er den Gegenstand an Faro weiter.
„Es gibt zwei Sorten von Fingerabdrücken in Schranz’ Wohnung“, erklärte Godfredson. „Die einen finden sich nur an der Tür, an den Lichtschaltern und am Aquarium. Ich war eben bei Frau Reisäcker und habe ihre Abdrücke genommen. Sie stimmen damit überein. Die anderen Abdrücke sind auf die ganze Wohnung verteilt. Sie gehören bestimmt Schranz, obwohl ich das nicht bestätigen kann, solange ich ihm seine nicht abgenommen habe. Dazu müssten wir ihn finden, tot oder lebendig. Jedenfalls scheint die Geschichte der Reisäcker zu stimmen. Sie war in der Wohnung, hat aber nichts angefasst, was sie nicht anfassen sollte.“
„Und der Schraubenzieher?“, wollte Faro wissen. „Keine Abdrücke darauf?“
„Doch, und zwar die gleichen wie überall in der Wohnung.“
Dirk Fachinger setzte sich aufrecht. „Dann war Schranz nicht das Opfer, sondern der Mörder?“
Godfredson kramte einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche heraus. „Auf dem Weg zu euch habe ich kurz im Labor vorbeigeschaut. Die Analyse des Blutes war gerade fertig. Hier!“
Fachinger schnappte nach dem Papier und überflog die Tabellen mit den vielen Fachbegriffen. Die meisten davon sagten nur Medizinern etwas. Bei der Zeile namens HIV blieb er hängen. Dort stand „pos“.
„Das Opfer hatte Aids“, sagte er und spürte, wie er blass wurde.
„Nicht ganz verwunderlich, wenn es ein Angehöriger der Homosexuellenszene war“, meinte Godfredson.
„Nicht jeder Schwule ist HIV-positiv“, widersprach Fachinger. Faro gab ihm den Schraubenzieher zurück, und auch jetzt erlebte er wieder dieses … Aufwallen von Kraft in sich, als er den Gegenstand entgegennahm. Er drückte den Griff, fuhr mit den Fingern an dem Metall entlang, bis zur schmalen Spitze. Diese Spitze war vermutlich mehrmals in den Körper des Opfers eingedrungen, wie oft, das wussten sie nicht, solange sie die Leiche nicht hatten.
In seinem Kopf liefen mehrere Szenarien ab: Schranz war mit einem Freund in der Wohnung. Dieser vertraute ihm – nach dem Sex – seine Aids-Erkrankung an. Schranz verlor die Beherrschung und tötete ihn. So oder ähnlich konnte es sich zugetragen haben. Die Beichte, unter Aids zu leiden, führte Tag für Tag irgendwo auf der Welt zu furchtbaren Dramen unter Paaren, ganz gleich, welchem Geschlecht sie angehörten und was ihre sexuelle Orientierung war. Doch während Fachinger die denkbaren Konstellationen durchspielte, meldete sich eine Stimme tief in ihm, die ihm sagte, dass alles noch viel komplizierter war. Warum und wie war die Leiche verschwunden? Was hatte dieses fünf Jahre alte Telefonbuch von Mannheim am Tatort zu suchen? War die Reisäcker
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