Falkengrund Nr. 30
Stunde in Anspruch. Als sie abgeschlossen war, öffnete Michael die Augen. Sie waren hellblau und lagen tief in den Höhlen.
Es war unvermeidlich, dass der erste Blick seines Lebens auf die Leiche zu seinen Füßen fiel. Seinem angespannten Gesicht war nicht zu entnehmen, welche Emotionen der Anblick in ihm auslöste. Michael blickte an sich herab. Alle Attribute eines menschlichen Körpers waren vorhanden, nur die Geschlechtsteile fehlten. Sein Körperbau war der eines Mannes, doch zwischen seinen Beinen gab es eine sanfte Erhebung, sonst nichts.
Er machte einige vorsichtige Schritte weg von der Leiche. Zu gehen bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Seine Füße waren sauber – der Ton, aus dem er vor kurzem noch bestanden hatte, hatte das Blut vollkommen aufgesaugt.
Michael ging langsam durch alle Zimmer des Hauses. In Hannes’ Schlafzimmer fand er Kleider und zog einige davon an, in einer bizarren Mischung. Schließlich verließ er das Haus.
Da er nichts anderes zu tun hatte, würde er eben nachsehen, was diese Welt für ein Ort war.
11
Gegen drei Uhr kehrte Traude zurück. Sie hoffte, dass Konzelmann noch nicht eingetroffen oder zumindest noch nicht wieder gegangen war. Die Materialen zusammenzutragen, die er notiert hatte, war eine schwierige Aufgabe gewesen, und seine entsetzliche Handschrift hatte dafür gesorgt, dass sie zweimal etwas Falsches gekauft hatte.
Als sie die Haustür offen stehen sah, ahnte sie Schlimmes. Sie stürzte ins Innere und rannte in Richtung Michaels Zimmer. Mit den anderen Räumen gab sie sich erst gar nicht ab.
Zuerst fiel ihr auf, dass die Statue nicht mehr da war. Erst dann entdeckte sie den Körper von Hannes auf dem Boden. Sie vergewisserte sich, dass er tot war. Es machte ihr nichts aus, ihn anzufassen. Was sie schockierte, war das Verschwinden des Golems. War er gestohlen worden?
Oder zum Leben erwacht?
Aufgeregt, ziellos ging sie im Raum herum. Als sie sich wieder der Tür zuwandte, erkannte sie Dr. Konzelmann!
Der Wissenschaftler hatte das Haus betreten, ohne zu klingeln oder sich anderweitig bemerkbar zu machen, und das nur wenige Minuten nach ihr. Traude sah an sich herab. An ihrer Hand klebte ein wenig Blut, denn sie hatte Hannes’ Kopf zur Seite gedreht, um zu sehen, ob er noch lebte.
Für Dr. Konzelmann musste es aussehen, als hätte sie Hannes getötet.
Die beiden taxierten sich.
Der Wissenschaftler bückte sich ächzend und hob etwas vom Boden auf. Sie sah nicht, was es war.
„Ich habe es nicht getan“, krächzte Traude.
Stumm wandte sich der Doktor um, verließ das Haus.
Ein schweigsamer Mensch.
Würde er auch über das schweigen, was er hier gesehen hatte?
12
Gegenwart
„Ich sehe, mit einer Ausnahme sind alle versammelt. Harald Salopek hat es nicht für nötig befunden, meiner Bitte nachzukommen.“ Fachinger machte ein untröstliches Gesicht, dann grinste er. Eben hatte er eine kräftige Prise Schnupftabak genommen und fühlte sich so unbesiegbar wie Popeye nach einer Büchse Spinat. „Das macht aber nichts. Herr Salopek ist eine völlig unwichtige Figur in unserem Spiel.“
Wie er es gewünscht hatte, hatte die Lehrer- und Studentenschaft von Falkengrund in einem Stuhlkreis rund um den breiten, bulligen Mann Platz genommen. Die meisten Anwesenden trugen eine genervte Miene zur Schau. Ganz besonders säuerlich präsentierten sich die Gesichter der Dozenten, und hier stach wiederum Traude Gunkel heraus. Bei den Studenten leuchtete bisweilen auch Neugier hervor – besonders Jaqueline Beck schien mit Spannung zu warten, welche Show der rustikale Hauptkommissar abziehen würde.
„Eine lange Vorrede will ich Ihnen und mir gerne ersparen. Ich bin nach Falkengrund gekommen, um ein Geheimnis zu lösen. Kein bestimmtes Geheimnis, sondern irgendeines. Nein, nicht irgendeines. Ein möglichst großes. Und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass es mir gelungen ist, eines zu finden und zu lösen. Nebenbei bemerkt, das Geheimnis, das ich von Berufs wegen eigentlich als erstes angehen müsste, habe ich noch nicht geknackt. Das ist die Frage, wer Michael Löwes Vater Hannes getötet hat.“
Die Anwesenden zuckten zusammen. Fachinger beobachtete sie genau. Einige von ihnen schienen von der Sache zu wissen, die Dozenten hauptsächlich, während die Schüler ahnungslos waren und Michael nun mit offenen Mündern musterten. Am meisten war Traude Gunkel erschrocken. Sie versuchte sogar ein Lächeln, so sehr hatte der Schock sie getroffen. Heute
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