Falkengrund Nr. 30
gleichmäßig in dem Raum verteilte, damit man ihn betreten konnte. Über Nacht war der Verfallsprozess weiter fortgeschritten, und der Fußboden hatte sich fast vollständig in weichen Erdboden verwandelt.
„Was ist das?“, murmelte die Frau. „Eine Statue aus Ton? Ein Garten mitten im Haus? Das verstehe ich nicht. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet.“
Sie stolperte durch den Raum, umkreiste Michael, den Golem, der nicht leben wollte. Inzwischen war Hannes herangekommen und sah, wie die Frau sich bückte. Sie nahm die kleinste der Steinplatten, hob sie hoch. Ihr Gesicht war eine Fratze des Wahnsinns.
„Ich weiß nicht, was das ist“, keuchte sie mit Blick auf die Statue, „aber es ist nicht gut. Es muss vernichtet werden. Als nächstes werde ich deinen Sohn suchen und ihn ebenfalls von der Erdoberfläche tilgen. Dann sind meine Fehler rückgängig gemacht.“
„Helga“, flüsterte Hannes. Erst jetzt erkannte er die Frau, die damals die Séance geleitet hatte. Sie war verändert, hatte offensichtlich den Verstand verloren. Fasziniert verfolgte er, wie sie laut ächzend mit der Steinplatte ausholte. Es war klar, was sie damit vorhatte. Warum auch immer – sie wollte die Statue zerstören. Einen Moment lang war ihm das erschreckend gleichgültig, und er war gewillt, sie gewähren zu lassen. Im Grunde tat sie nur das, was er schon lange tun wollte. Doch dann dachte er an den winzigen Körper seines Sohnes im Inneren der Tonfigur, und er konnte es nicht ertragen, dass dieses Gefäß, das wie ein Sarg für ihn war, beschädigt wurde.
Er warf sich nach vorne, streckte ihr die Arme entgegen. „Nein!“, schrie er. „Lass den Stein los!“
Sie ließ ihn tatsächlich los, aber nicht, um ihm einen Gefallen zu tun, und erst, nachdem sie ihm eine Menge Schwung verliehen hatte. Hannes befand sich nun zwischen ihr und der Statue. Helga hatte auf den Oberkörper der Figur gezielt, und genau auf der Flugbahn des schweren Steins lag nun Hannes’ Kopf.
Das Wurfgeschoss flog auf ihn zu. Er konnte nicht ausweichen.
Der Stein traf ihn an der Schläfe. Hannes riss die Arme hoch, er spürte zunächst keinen Schmerz, nur die Wucht des Aufpralls, die ihn nach hinten riss. Ohne eine Chance, den Sturz abzufangen, kippte er rückwärts um. Dabei knallte er mit dem Hinterkopf gegen die Kante eines der Steine, die er eben ausgelegt hatte.
Der Schädelknochen brach. Seine aufgerissenen Augen sahen Michaels Figur über sich. Sein Kopf war genau an den Füßen der Statue zu liegen gekommen. Jetzt empfand er Schmerz, riss seine Hand hoch, und seine Finger spürten die Nässe des austretenden Blutes.
Der Schmerz wurde zu groß, Hannes Löwes Bewusstsein verlöschte.
Sein Herz blieb stehen.
Die Frau, die ihn getötet hatte, hüpfte wie ein aufgeregter Affe hin und her. Sie raufte sich das Haar und riss es büschelweise aus. „Das ist nicht richtig“, gurgelte sie leise. „Das ist nicht richtig, und ich weiß nicht, wie ich es wiedergutmachen soll. Wie ist das nur passiert? Was werden die Geister dazu sagen? Das ist eine Katastrophe. Jawohl, eine regelrechte Katastrophe.“
Das Blut aus dem Kopf des Toten verteilte sich auf dem Boden, tränkte die Erde und lief bis zu den Füßen der Tonfigur hinüber. Helga betrachtete alles genau, wie jemand, der fachmännisch das Ausmaß eines Schadens begutachtet. Schließlich taumelte sie aus dem Zimmer und aus dem Haus.
Michaels Füße badeten in Hannes’ Blut.
Der Ton sog es auf.
Es floss im Inneren des Körpers nach oben, der Schwerkraft trotzend, der Stelle entgegen, wo in einem menschlichen Leib der Magen war. Die Bahnen, die das Blut beschrieb, blieben in der Figur bestehen, verfestigten sich, wurden zu einem Geflecht von Adern. Vom Magen aus floss das Blut zum Herzen, von dort in den Kopf zum Gehirn. Die rötliche Färbung des Tons verschwand, die Farbe wurde blasser und näherte sich der von menschlicher Haut an. Ein leichter Glanz entstand auf der Oberfläche, winzige Poren entstanden, aus denen feine Härchen sprossen. Auf dem Kopf der Statue erschienen Haare. Sie waren von einem stumpfen Blond und erinnerten an feuchtes Stroh. Die Konturen des Körpers wurden detaillierter. Aus groben Formen bildeten sich die feinen Unebenheiten eines sehr hageren, aber drahtigen Körpers heraus. Muskeln spannten sich unter der Haut, Rippenknochen zeichneten sich ab. Aus dem unfertigen Etwas entwickelte sich ein Mensch.
Die Veränderung ging langsam vonstatten, nahm mehr als eine
Weitere Kostenlose Bücher