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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Der Mann stieß ein schrilles Kreischen aus, wie ein kleines Mädchen. Seine Augen weiteten sich.
    „Los, gib schon ab!“, rief Ulrich. „Gegen ihre Kälte kommst du nicht an. Die bringt dich ins Grab!“
    Doch der Mann hatte nicht mehr die Kraft, die mit Blut gefüllte Blase weit zu werfen. Sie fiel aus seinen Händen, und vielleicht rettete ihn dieser Umstand. Die eiskalten Seelen lösten sich von ihm.
    „Verrückt“, grummelte der alte Spryhofen. „Das ist wie ein Spiel – die Toten gegen die Lebenden.“ Ungläubig beobachtete er, wie sich die Straße füllte. Innerhalb von drei, vier Minuten versammelte sich der Großteil der Dorfbewohner in der Nähe. Teilweise bildeten sie Barrikaden, dann wieder Grüppchen, und einige standen alleine herum, die Arme ratlos abgewinkelt. Manche sprachen miteinander, etwas, was sie schon seit Monaten nicht mehr getan hatten.
    Spryhofen drückte sich ängstlich gegen die Wand des GOLDENEN GULDEN. Die Zahl der fantastischen Wesen in den gummiartigen weißen Hüllen nahm nicht mehr weiter zu. Etwa drei Dutzende waren es mittlerweile. Waren sie überall aus den Speisekammern gekrochen? Die Seelen gelangten wieder und wieder in den Besitz der Schweinsblase. Ihr Ziel schien es zu sein, das Dorf damit zu verlassen. Sie scheiterten an den Mauern aus Menschen, die sich ihnen immer mutiger entgegenstellten. Die Lebenden waren beweglicher als sie und konnten ihnen den Ball immer wieder aus den Händen schlagen oder kicken. Die Toten bewegten sich anfangs sehr unbeholfen, als lernten sie eben erst das Laufen. Doch sie lernten es schnell, wurden flinker und agiler. Und ihre eiskalte Berührung war nicht lange zu ertragen. Den Bemühungen der Toten entgegengesetzt, versuchten die Lebenden, die Schweinsblase ins Zentrum des Dorfes zurückzubringen, in die Mitte der Straße, vor den Gasthof, wo sie aufgetaucht war.
    Warum kümmerten sie sich überhaupt um das makabre Ding? Warum rannten die Menschen nicht einfach weg? Wie konnten sie sich auf so etwas ein Spiel mit den Seelen der Verstorbenen einlassen? War ihre Niederlage nicht längst vorbestimmt? Und war eine Niederlage in diesem Fall nicht gleichbedeutend mit ihrem Tod?
    Auch Spryhofen verspürte eine unterschwellige Lust, in das Geschehen einzugreifen. Noch konnte er sie unterdrücken, doch sie baute sich in ihm auf wie ein nahender Orgasmus. Es war, als entlade sich etwas, worauf er lange gewartet hatte.
    Das Ende der Stille war gekommen. Eine mit Leder bespannte Schweinsblase brachte es.
    Die Morde hatten das Leben im Dorf zum Stillstand gebracht. Nicht nur die falschen Verdächtigungen, der Argwohl und das Misstrauen waren es gewesen, die so viele klebrige Spinnweben gesponnen hatten, bis die Menschen sich nicht mehr bewegen konnten. Noch etwas anderes war schuld an der Krankheit, unter der Friedlichten litt: Die Kluft zwischen denen, die das Dorf verlassen hatten, und jenen, die geblieben waren. Sie war zu einem unüberwindbaren Abgrund geworden, denn die Fliehenden hatten etwas getan, was es ihnen unmöglich machte, den Gebliebenen in die Augen zu schauen. Sie hatten das Dorf im Stich gelassen. Und die Gebliebenen hatten etwas erlebt, was sie auf eine andere Stufe hob. Sie waren etwas geworden, was man früher vielleicht Weise genannt hätte. Ob man ein Weiser war, hatte mit Intelligenz nichts zu tun. Das Wort Weise kam von Wissen . Sie wussten etwas, weil sie etwas gesehen hatten. Etwas, was ihre Einstellung zu dieser Welt veränderte.
    Und nun fügte sie eine Schweinsblase, gefüllt mit Blut, wieder zusammen. Zu einem Team. Zu einer Gemeinschaft. Gegen die Toten.
    Spryhofen beobachtete, wie die Jungen des Dorfes eine Gruppe der Seelen umringte. Eine weibliche Untote trug die Blase in den Händen. Es gelang ihr, einer Reihe von Schlägen und Tritten auszuweichen. Sie schleuderte den Ball in die Luft, weit hinaus an eine Stelle, wo ein anderer Toter stand. Sie hatte ihn gesehen. Oder gespürt. Oder mit irgendeinem Sinn wahrgenommen, den nur die Seelen kannten. Frustriert zerrte einer der Jungen die weiße Frau zur Seite. Er schrie, als seine Finger zu gefrieren drohten, stürzte zu Boden.
    Das Gedränge wogte auseinander und dann wieder zusammen. Spryhofen fühlte sich an Szenen aus Rugby-Spielen erinnert, die er im TV gesehen hatte. Wo der Ball war, sammelten sich die Menschen zu einem Knäuel. Noch waren die Menschentrauben locker, die lebendigen Spieler zögerlich. Das änderte sich allmählich. „Man kann sie anfassen!“,

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