Falkengrund Nr. 32
reißen. Zwischendurch ließ er sie einfach kommentarlos stehen, schloss sich in einem Zimmer ein und kam Stunden später wieder hervor, mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen, um seine fruchtlosen Bemühungen fortzusetzen.
Sie sprachen immer weniger miteinander. Manchmal plapperte Nevin kaum verständliches Zeug vor sich hin, dann schwieg er wieder stundenlang. Mamas Bemerkungen wischte er mit unwilligen Gesten zur Seite oder überhörte sie einfach. Er kritzelte wie ein Besessener seine Zeichenblöcke voll, bis das Haus buchstäblich in seinen zusammengeknüllten Entwürfen zu versinken drohte. Er hatte seinen Dienstboten untersagt, im Haus aufzuräumen, da es seine Konzentration störe.
Sie arbeiteten bis spät in die Nacht hinein, und je erschöpfter er wurde, desto lächerlicher wurden seine Kreationen. Einmal hatte er ihr aus Plastiktüten eine Bluse genäht und ihr riesige, lappige Engelsflügel aus demselben Material auf den Rücken geklebt, die hinter ihr auf dem Boden schleiften wie eine Schleppe. Er trank immer größere Mengen Alkohol. Die Whiskyflasche wurde zu seinem ständigen Begleiter.
Am vierten Tag nach dem nächtlichen Vorfall ertrug sie dieses Leben nicht mehr.
„Nevin“, sagte sie mitten in der Arbeit (er bastelte ihr eben eine Halskrause aus Krepp, und sie stand wartend am Fenster und sah hinaus), „ich gehe weg.“
„Nein!“ Es klang erschrocken und flehentlich. „Wir sind noch nicht fertig. Bitte, du kannst jetzt nicht …“
„Es ist nicht mehr zu aushalten. Es macht keinen Spaß mehr.“
„Aber du siehst doch, welche Mühe ich mir gebe, welchen Einsatz ich bringe!“ Das stimmte natürlich. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und er litt immer häufiger unter Muskelzuckungen. Der Schlafmangel stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen!“
Was sollte sie darauf erwidern? Sie hatte diese Reaktion vorausgesehen und keine Lust auf eine Diskussion. Sollte sie ihm vorwerfen, dass er sie unmenschlich behandelte, wie eine Puppe, die man an- und ausziehen konnte, wie man gerade Lust hatte? Im Grunde war sie ihm nicht böse. Sie spürte den Druck, unter dem er stand, dem er sich selbst aussetzte. Aber sie konnte nicht länger zusehen, wie er sich an einer Aufgabe aufrieb und zerstörte, der er nicht gewachsen war. Er versuchte seine Kreativität zu erzwingen, und er hätte eigentlich alt genug sein müssen, um zu wissen, dass das nicht ging. Eigentlich tat er ihr leid.
„Du richtest dich zugrunde“, meinte sie beinahe zärtlich, als sei er ein alter Freund, den man davor bewahren musste, eine große Dummheit zu machen.
Er senkte den Blick, starrte auf seinen Entwurf und zerriss ihn. „Ich wusste, dass du eines Tages gehen würdest. Deshalb musste ich mich beeilen. Ich habe das Gefühl, ich werde gar nichts mehr zustande bekommen, wenn du weg bist.“ Obwohl er schon einige Drinks intus hatte, sprach er deutlich und überlegt. Er kauerte auf dem polierten Parkettboden. Er skizzierte gerne in dieser Haltung.
Respektlos, wie ein junger Wilder .
Vorsichtig näherte sie sich ihm. Kniete vor ihm nieder. Berührte ihn sanft an der Schulter. Sie hatten keine Zärtlichkeiten ausgetauscht, waren ganz platonisch geblieben. Obwohl sie Wand an Wand schliefen, obwohl die Arbeit es erforderlich machte, dass sie sich mehrmals täglich bis auf die Unterwäsche auszog und sich von ihm ankleiden ließ, hatten sie die feine Grenzlinie niemals überschritten. Vielleicht war es auch das, was ihm so zusetzte. Vielleicht wünschte er sich, ihr noch näher zu kommen, und wagte nicht, einen Versuch zu unternehmen, aus Angst, zurückgewiesen zu werden. Seine Designerkollegen hatten ihren Spaß dabei, ihn zu verspotten, weil er nicht mehr der Jüngste war und seinen Zenit überschritten hatte. Möglicherweise verzehrte er sich aus Verlangen zu ihr, doch er schämte sich für sein Alter und war zu stolz und verletzlich, um einen Annäherungsversuch zu unternehmen.
Mama spürte den Wunsch in sich, ihn in den Arm zu nehmen, aber sie hielt sich zurück. Es war einer dieser Momente, in denen alles geschehen konnte. Und egal, was geschah, später würde man es bereuen.
„Du musst wieder normal werden, Nevin“, sagte sie. Mehr nicht. Und ihre Hand blieb fest und ruhig an seiner Schulter, wie eine Stütze.
„Vielleicht sollten wir ein paar Tage Pause machen“, flüsterte er nach einer Weile. „Wir könnten Tapetenwechsel gebrauchen. Fahren wir ein wenig
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