Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
andere Seite legte. Es war altes, vergilbtes Papier. Es schimmerte wie Perlmutt. Als Mama danach greifen wollte, kam er ihr zuvor und öffnete das Kuvert. Zwei Blätter in einer fremden, wunderschönen Schrift voller hoher, schlanker Bögen kamen zum Vorschein. Die Buchstaben gemahnten an eine Reihe aufrechter, graziler Krieger, stolz und unbeugsam, von einer märchenhaften Eleganz.
    „Ich kann es nicht lesen“, meinte Mama knapp. „Elbisch, nehme ich an.“ Das klang etwas spöttisch.
    „Es ist Gälisch, in einer Art Geheimschrift festgehalten. Ich konnte nicht jedes Wort entziffern, aber was ich erschließen konnte, hat mein Leben verändert.“ Sie beobachtete, wie er beim Sprechen mit der Zunge die Lippen befeuchtete und wie seine Blicke flink über die Zeilen huschten.
    „Worum geht es in dem Text?“
    „Wenn ich das wiedergeben könnte, wäre ich Dichter geworden. Es ist eine Art … Poesie … es handelt von der Schönheit der Farben, und es ist voll von Vergleichen und … Anspielungen. Und die Sprache ist unendlich … fein. Wie eine Pinzette greift sie Dinge heraus, die einem niemals aufgefallen wären.“
    Mama verstand nicht viel von Gedichten, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein paar gut gewählte Worte einen Menschen in Verzückung bringen konnten. Andererseits war MacNorras ein Kreativer – ein Künstler. Solche Menschen empfanden anders.
    „Es tut mir leid“, sagte sie. „Ich kann darin keine Spur von einem Beweis erkennen, nicht für das, was mit deinem Vater geschehen sein soll …“
    „Der Brief lag auf einem Felsen ganz nahe bei der Stelle, an der er starb.“
    „Sein Mörder hat ihn geschrieben?“
    Er setzte sich wieder hin, blieb jedoch ruhelos. „Verstehst du denn überhaupt nicht? Wir Modedesigner tun genau das gleiche! Wir zerschneiden den Stoff und fügen ihn zu etwas Neuem zusammen – zu etwas ungleich Schönerem. Und wir berauschen uns an den Farben und an dem Zusammenspiel der Formen. Wir zerstören und erschaffen. Ein gewöhnlicher Dichter kann so etwas nicht tun. Seine Werke sind nur Worte in Büchern, Tinte auf Papier. Aber dieser Brief …“ Plötzlich sah er sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. „Du verstehst nicht, nicht wahr?“
    „Was verstehe ich nicht?“
    „Siehst du diese rostroten Buchstaben – als ich den Brief fand, waren sie noch ein wenig feucht. Glänzten noch.“ Behutsam fuhr er mit der Hand über das Papier. „Dieser Brief wurde mit dem Blut meines Vaters geschrieben.“

2
    „Ja?“ Der Arzt zog die Nadel aus der Ader und griff unwillig nach dem Telefon. Es war nach 21 Uhr. Eigentlich wollte er längst zu Hause vor der Flimmerkiste sitzen und die Beine ausstrecken. Aber es hatte in der Praxis noch viel zu tun gegeben. Laborwerte waren auszuwerten und einzutragen, und wenn er wartete, bis die Mädchen sich dahinter klemmten, kam der ganze Ablauf ins Stocken. Die Arzthelferinnen nahmen es mit dem Feierabend sehr genau – er konnte sich das nicht leisten.
    Um sich für die Arbeit zu entlohnen, hatte er sich einen Schuss gesetzt, kein Heroin, nur eines dieser netten Aufputschmittel, die einem auf tausend Kanälen zuflossen, wenn man Arzt war und die richtigen Leute kannte.
    „Sind Sie es persönlich, Dr. Hasselburgh?“
    „Wer soll ich denn sonst sein?“ Sein Unmut wurde stärker. „Sie haben meine Nummer gewählt, also …“
    „Ja, ich habe verstanden. Hören Sie gut zu, Doktor. Ich habe eine wichtige Mitteilung zu machen.“
    „An mich?“
    „An diejenigen, deren Kontaktperson Sie sind.“
    „Ich weiß nicht, was Sie meinen. Mit wem spreche ich eigentlich?“
    „Entschuldigen Sie. Ich war etwas aufgeregt. Mein Name ist MacNorras, Nevin MacNorras …“

3
    Die Fahrt nach Norden wurde für Mama unvergesslich.
    500 Straßenkilometer durch die englische Landschaft, an der Seite dieses Mannes, einen Kopf voller Rätsel, Andeutungen und Befürchtungen. Anstatt sich Gedanken zu machen, was sie in Schottland erwarten würde, ließ sie die Dinge auf sich zukommen, genoss die Reise wie einen Drogentrip, ließ sich von dem vorbeiziehenden Grün des Landes verzaubern. MacNorras schien es nicht eilig zu haben – er nahm sich die Zeit, die Landstraßen zu benutzen und ihr die vielen Dörfer zu zeigen, die weißen Cottages, mit ihren gepflegten, mit Blütenpracht überbordenden Gärten, die vielen malerischen Flüsschen, die verrückten, pittoresken Pubs und Gästehäuser. Einmal gerieten sie eine Art Dorffest, MacNorras stellte den

Weitere Kostenlose Bücher