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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Geräusche verantwortlich gewesen waren: eine niedrige Holzkiste, die aufgebrochen worden war, und ein zersplitterter gläserner Briefbeschwerer.
    Wohin waren die Einbrecher so schnell verschwunden? Die Türen des einzigen Schrankes waren weit geöffnet, ein anderes Versteck gab es nicht, das Fenster war geschlossen.
    Die Antwort lag im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft.
    Das grüne Leuchten im Raum war nicht wirklich verschwunden. Es war im Licht nur weniger deutlich auszumachen. Mama glaubte die Umrisse von Menschen zu erkennen. Eine Gänsehaut rieselte unendlich langsam über ihren Rücken, kribbelnd, lähmend. Dann wurde sie Zeugin, wie eine Schublade sich von alleine öffnete. Ein grüner Reflex lief über die Kommode, zu der sie gehörte, und ein Stapel Papier bewegte sich, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, heraus. Er schwebte nicht in der Luft, aber er kroch aus der Schublade heraus.
    „Nein! Das nicht!“ Nevin stürzte nach vorne, griff nach den Papieren. Als er sie an sich gerissen hatte, versetzte er Mama einen unsanften Stoß, verließ mit ihr zusammen fluchtartig das Zimmer und schlug die Tür lautstark hinter sich zu.
    Die Stille nach dem Knall war wie eine Drohung.
    „Was war das?“, schrie die junge Deutsche. Sie musste sich am Treppengeländer festhalten. „Die Gegenstände haben sich von selbst bewegt.“
    MacNorras räusperte sich die Kehle frei. „Ich fürchte, wir sind beide noch ein bisschen verschlafen. Da glaubt man schon mal, Dinge zu sehen, die …“
    „Keine Ausflüchte, bitte“, sagte Mama hart. Ihre Augen waren schmal geworden, ihr Herz pochte wild. „Ich möchte wissen, was hier vorgeht!“
    „Glaubst du an Naturgeister?“, fragte er abrupt.
    „Ich … nein!“
    „Siehst du? Da war nichts. Und weil da nichts war, werden wir auch den Hausangestellten morgen früh nichts davon erzählen.“
    Mama ließ enttäuscht die Schultern sinken. „Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass wir keinen Red Cap angetroffen ha-…“
    „Einen was ?“ Er warf die Pfeffermühle mit Wucht auf den Boden. Er war nicht so sehr überrascht über ihre Worte als vielmehr erzürnt . Er fletschte seine Zähne unter dem gewaltigen Schnurrbart, und seine Augen weiteten sich. So hatte sie ihn noch nie gesehen, nie zu sehen erwartet.
    Sie hatte etwas falschgemacht, aber noch stand sie zu sehr unter dem Eindruck des eben Erlebten, als dass sie sich deswegen ein schlechtes Gewissen hätte machen können. Noch zitterten ihre Hände. Der Schrecken machte sie mutig. „Willst du mir nicht endlich reinen Wein einschenken?“, verlangte sie.
    „Was weißt du?“, fragte er.
    „Nichts. Deshalb brauche ich Antworten.“
    „Nein, du irrst dich!“, erwiderte er mit unterdrückter Wut. „Du brauchst gar nichts. Wenn du wirklich Antworten brauchst, warum gehst du dann nicht zurück in diesen Raum und holst sie dir selbst?“
    Mama verstummte. Sie würde den Raum nicht mehr betreten. Sie hatte etwas gesehen, was ihrem Weltbild die ersten Risse verpasste. Und die ersten Risse waren die schlimmsten. The first cut is the deepest – das hatte schon Cat Stevens gesungen. Sie hatte nie auf den Text geachtet. Sicher sprach er von etwas anderem. Trotzdem fiel ihr die Liedzeile ein.
    „Die Antworten sind nicht mehr dort“, sagte sie. „Ich glaube, du hast sie in der Hand.“
    Daraufhin schüttelte er zornig den Kopf, klemmte sich den Packen Papier unter den Arm, verschwand in seinem Schlafzimmer und verriegelte die Tür hinter sich mit einem vernehmlichen Klacken.
    Hätte Mama in diesen Minuten einen Blick aus dem Fenster auf die Rückseite des Hauses geworfen, hätte sie dort in der Nacht die Gestalt einer Frau ausmachen können. Einer Frau in einem roten Kleid.

    ENDE DER EPISODE

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Nr. 61 -

Fabelwesen

1
    Die nächsten Tage standen im Zeichen des nächtlichen Vorfalls. Ohne dass sie auch nur ein einziges Wort darüber wechselten, blieb das Geschehen zwischen ihnen stehen, war ihr ständiger Begleiter. Anfangs war Nevin sogar ihrem Blick ausgewichen, dann hatten sie zusammen gearbeitet, und er war gezwungen, sie anzusehen.
    Die Arbeit kam nicht recht vom Fleck. Hatte er in der letzten Woche einige vielversprechende Ansätze gehabt, so trat er jetzt nur noch auf der Stelle. Er hüllte sie in sinnlose, unförmige Objekte aus Stoff, ließ sie stundenlang auf und ab gehen und die unterschiedlichsten Posen einnehmen, nur um ihr die Entwürfe irgendwann in einem Anflug von Jähzorn vom Körper zu

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