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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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nachzublättern, aber als sie ihm das Bild beschrieb, wusste er sofort, wovon die Rede war.
    „Das ist ein Red Cap“, erklärte er.
    „Ein Red Cap“, wiederholte sie und fuhr mit den Fingern unwillkürlich über die Mütze des Wesens. Sie leuchtete in so frischem Rot, dass man das Gefühl hatte, die Farbe sei an dieser Stelle noch feucht. Mama musste an die Grimmsche Märchengestalt „Rotkäppchen“ denken, doch die passte wahrhaft nicht zu dieser Illustration. „Ist das eine Art Zwerg?“, erkundigte sie sich.
    „Nein, ein Elb“, erwiderte der Wissenschaftler, als würden sich Elben und Zwerge so grundsätzlich voneinander unterscheiden wie Hasen und Schmeißfliegen. „Er lebt in den Lowlands.“
    „Wo ist das?“, fragte Mama geradeheraus.
    „Hör mal, Mädchen!“, entrüstete sich der Professor. Sie schien seinen Nationalstolz getroffen zu haben. „Das sind die südlicheren Landstriche Schottlands, nahe an der Grenze zu England! Es ist doch wohl nicht möglich, dass jemand, der eine Schule besucht hat …“
    „Dieser Red Cap sieht böse aus“, sprach sie schnell weiter.
    „Es handelt sich da in der Tat um einen gefährlichen Zeitgenossen“, bekräftigte der Wissenschaftler, wieder ganz in seinem Element. „Er haust in den Türmen alter Schlösser und Burgen, vor allem in jenen, in denen einmal blutige Verbrechen geschehen sind. Er tötet seine ahnungslosen Opfer, in dem er Steine und Felsbrocken auf sie herabfallen lässt.“
    Mama schüttelte sich. „Das ist ja widerlich.“
    „Es kommt noch viel widerlicher, my bonnie lass. Wenn sie tot sind, fängt er geschickt ihr Blut auf. Darauf hat er es nämlich abgesehen.“
    „Was fängt er damit an? Er trinkt es doch nicht etwa?“
    „Oh nein, das würde er niemals tun. Ein Red Cap ist kein Vampir, auch wenn er manchmal fälschlicherweise in Abhandlungen über Vampire auftaucht. Das Blut von frisch getöteten Menschen führt er einer ganz anderen Verwendung zu …“
    Mama hatte das Gefühl, dass der Alte eine diebische Freude dabei empfand, es spannend zu machen.
    „Sagen Sie schon!“
    „Haben Sie das Buch vor sich? Sehen Sie seine rote Mütze, my bonnie lassie?“
    „Yes, indeed“, antwortete sie, um möglichst britisch zu klingen.
    „Diese Mütze färbt er mit dem Blut der Getöteten.“
    Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. „Und dafür tötet er?“
    „Nur dafür.“
    In ihrem Magen begann ein seltsames Wühlen. „Professor, Sie werden mir aber nun nicht weismachen wollen, diese Red Caps existierten tatsächlich?“
    Er erwiderte etwas, was sie nicht verstand. Sie wollte nachfragen, doch dann unterließ sie es. Sie bedankte sich artig für das Gespräch, legte auf und betrachtete das Telefon. Ihre Gedanken beschäftigten sich bereits mit der Frage, was Nevin mit diesem Aberglauben zu tun hatte. Seine Köchin hatte angedeutet, dass der Glaube an die Naturgeister für einen Schotten etwas Selbstverständliches war. Glaubte er auch an die Red Caps?
    Weniger als eine Minute später stand sie ihm gegenüber. Er merkte ihr nicht einmal an, wie aufgewühlt sie war. Er war voller frischer Ideen, die er mit ihrer Hilfe umzusetzen gedachte. Den ganzen Nachmittag und Abend lang und bis tief in die Nacht hinein entwarf er neue Kleider. Er zog sie ihr an, noch während sie entstanden. Immer wieder fiel Mama auf, dass er keine roten Farben verwendete – höchstens einmal dunkle, ans Violette oder Braune grenzende Töne. Aber auch auf Dunsteys Party hatte sie fast kein Rot gesehen.
    Kurz vor Mitternacht, als sie müde war und schon ein, zwei Drinks intus hatte, kam ihr ein verrückter Gedanke: Hatten alle diese Designer womöglich das gleiche Buch im Regal stehen, jenes über die Naturgeister? Und hatten alle den Artikel über den Red Cap übermalt oder herausgerissen, weil sie sich davor fürchteten? Davor, dass es irgendwo in alten schottischen Schlössern Wesen gab, die für einen leuchtenden roten Farbton Menschen töteten?
    Hatten sie Angst vor der roten Farbe? Hatte das alles mit Aberglauben zu tun? Oder war etwas vorgefallen, was die Farbe Rot unter ihnen zum Tabu hatte werden lassen? Was wusste sie schon über Modedesigner und ihre Welt? Von Schauspielern erzählte man sich, sie seien abergläubisch. Galt das auch für die Designer? War vielleicht irgendwann einmal etwas Furchtbares vorgefallen, ein blutiges Unglück, an das sie nicht erinnert werden wollten? Mieden sie deshalb die Farbe Rot?
    In dieser Nacht träumte sie wirres Garn

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