Falkengrund Nr. 32
den Mann schon beinahe vergessen. Nie hatte ihn etwas mit ihm verbunden. Vielleicht würde das Schicksal ihm ja sogar an Freilings Stelle eine Kollegin herbeizaubern, eine junge Pharmazeutin, blond, schlank, oben herum anständig gepolstert, und an der Oberfläche ein bisschen kühl, bis …
Kostlek stieß einen Schrei aus. Er war eben eine Häuserreihe entlanggegangen, als sich aus einem Hofeingang ein Schatten löste. Der Sandmann! Seine in den Grundfarben leuchtenden Kleider raschelten, seine Arme reckten sich ihm unnatürlich lang entgegen.
Dann erkannte Kostlek, dass er sich getäuscht hatte. Der Mann, den er für die unheimliche Gestalt gehalten hatte, war ein Jugendlicher in einer dicken, bunten Winterjacke, langhaarig und etwas versifft. Er schwankte, hielt eine Plastiktüte in der Hand. Sie war es, die geraschelt hatte.
„Sorry, Kollege!“, rief der Jugendliche. „Wollte dich nicht erschrecken. Hast du mal ne Kippe?“
Kostlek schüttelte den Kopf und brachte keinen Ton heraus. Er hatte schon öfters mal Wildfremden eine Zigarette gedreht und noch viel öfter selbst eine geschnorrt, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Er sah zu, dass er aus den Schatten herauskam. Hinter ihm pulsierten die Lichter des Movie-Parks, der nun allmählich schloss. Wo fuhren diese verdammten Busse ab? Die in Richtung Hauptbahnhof.
Er lief einen weiten Kreis um den Park, bis er die Haltestelle gefunden hatte. Der Weg machte ihn krank vor Angst. Da half es nichts, dass noch viele Leute unterwegs waren. Sie bedeuteten für ihn keine Sicherheit. Er wurde ja nicht von einem Menschen aus Fleisch und Blut verfolgt. Was er immer wieder zu sehen glaubte, war ein Wesen aus dem Märchen, aus einer Traumwelt. Ein Phantom.
In einem Strom aus zwanzig Menschen bestieg er den Bus der Linie CE50, kaufte in Gedanken eine Fahrkarte, und erst, als er saß, fiel ihm ein, dass er mit seinem Ticket den Bus hätte kostenlos benutzen können. Das Innere des modernen, zweckmäßigen Fahrzeugs war hell erleuchtet und bot keinen Raum für Schemen und Hirngespinste. Umso dunkler jedoch zeigte sich die Welt hinter den spiegelnden Scheiben. Überall glitten geduckt Gestalten vorbei, als hätten sie etwas verbrochen. Der Sandmann war unter ihnen, hundert Mal, aber immer nur für einen flüchtigen Moment. Kostlek wischte sich die Augen, bis sie brannten.
Alte Erinnerungen erwachten in ihm während der Fahrt zum Bahnhof. Wie lange lag das alles zurück? Dreizehn Jahre? Damals war er noch ein junger Mann gewesen, der Drei-Tage-Bart ohne graue Sprenkel, die Augen ohne Krähenfüße. Meyer und Freiling waren bereits da gewesen, als er in die Firma kam. Auf den ersten Blick hatte er gewusst, dass sie niemals Freunde werden würden. Am Anfang hatten die Wellen manchmal ganz schön hochgeschlagen. Doch im Laufe der Jahre hatte man sich zusammengerauft. Man saß im selben Boot, und wenn einer von ihnen zu sehr schaukelte, liefen alle Gefahr, nass zu werden. Klatschnass.
Der Bus fuhr in die Bucht vor dem Bahnhof ein. Kostlek verließ ihn als letzter, zögernd. Obwohl die Glasfront hell erleuchtet war, scharten sich dunkle Schatten um das Gebäude. Es war, als laufe man durch einen Wirklichkeit gewordenen Albtraum. Die Welt hatte sich verändert, war ein beklemmender, unheimlicher Ort geworden, ohne sichere Zuflucht. Zum ersten Mal fragte er sich, ob der Kommissar nicht etwa Recht gehabt hatte mit seiner Vermutung. Hatten Sie irgendwelche Medikamente geschluckt, die ihnen diese Halluzinationen bescherten? Vielleicht konnte er sich nur nicht mehr daran erinnern, so wie sich LSD-Konsumenten manchmal nicht daran erinnern konnten, die Droge zu sich genommen zu haben. Oder man hatte ihnen den Stoff heimlich verabreicht.
Wie passte das alles zusammen? Die Freikarten – das Mansion of Fear – der Sandmann – Freilings Tod …
Kostlek eilte in den Bahnhof, drehte sich hektisch durch die Halle und fand die Abfahrtsanzeige. Es fiel ihm schwer, sich darauf zu konzentrieren. Ihm blieben noch sieben Minuten Zeit, und vermutlich animiert von der Leuchtreklame eines Kioskes knurrte sein Magen. Als er das Geschäft erreicht hatte, sah er, dass die Läden heruntergelassen waren. „Da drüben gibt es einen Automaten“, gab ihm ein freundlicher Passant einen Tipp. Kostlek bedankte sich zerstreut und war hin und her gerissen zwischen dem Automaten, der Chips und Minisalamis versprach, und dem Gleis, zu dem er musste.
Ihm wurde bewusst, dass er nur wenige
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