Falkengrund Nr. 32
Cent Kleingeld bei sich trug, und er wandte sich seinem Bahnsteig entgegen. Eine Menge Leute warteten dort. In diesem Moment verkündete die Lautsprecheransage die Einfahrt des Zuges. Kostlek schlängelte sich durch die Wartenden, sein Magen ein hungriges Loch, seine Nerven am Ende.
Und dann sah er ihn zwischen den Menschen. Den Sandmann.
Er hatte sich hinter einem älteren Ehepaar versteckt, das sich lautstark zankte. Schob sich hervor. Kam näher. Wollte nur ihn. Es war keine dieser blitzartigen Visionen, die er schon den ganzen Weg über hatte. Dieser Sandmann blieb bestehen. Unter der Schminke war eine von Falten gekerbte, in namenlosem Hass erstarrte Fratze zu erahnen, und lange, knochige Finger stießen aus den Ärmeln. Wenn sie aneinander rieben, knirschte der rieselnde Sand, selbst hier noch deutlich vernehmbar, im Stimmengewirr und unter dem Lärm des sich nähernden Zuges.
Eine tiefe Urangst packte Kostlek, gegen die keine Vernunft und kein nüchterner Gedanke ankam. Er taumelte zurück, prallte gegen eine massige Schulter, rutschte daran ab und taumelte rückwärts ins Unbekannte, ohne den Blick von der Gestalt lösen zu können. Jemand schrie etwas. Eine Hand griff nach ihm, doch er schüttelte sie ab, weil er sie für die des Sandmanns hielt.
Der Boden unter seinen Füßen rutschte weg. So zumindest erschien es ihm. Die Sohlen seiner Schuhe glitten über Sand. Er fiel hinab in den Abgrund, schlug schmerzhaft mit dem Rücken und dem Hinterkopf auf die Gleise. Doch seine Pein währte nicht lange, denn in diesem Moment erfasste ihn die langsam einfahrende Lokomotive.
6
1992
Heiße, fiebrige Augustnächte. Das Mädchen lag auf einem vom Schweiß durchnässten Laken. Dennoch musste man die Fenster geschlossen halten, damit ihr Heulen nicht an die Außenwelt drang.
Die Zehnjährige schrie im Wachen wie im Schlafen. Ein anhaltender, durchdringender Schrei war es, der beim Luftholen nicht abbrach, sondern zu einem saugenden Klagen wurde, nur um im nächsten Moment wieder mit voller Kraft loszubrechen.
Sie war in einem Albtraum gefangen.
Aus dem Fußboden wuchsen schaurige Gestalten, solche, die wie verkohlte Leichen aussahen oder von einer mahlenden Schuppenschicht überzogen waren. Schwere, vom Kämpfen und Töten schartig gewordene Hörner wischten haarscharf an ihr vorbei, Klauenhände mit langen Krallen berührten ihre Haut. Dämonen, Geister, namenlose, unbeschreibliche Dinge scharten sich um das Bett, an das man sie mit dicken Lederriemen fixiert hatte. Von der hohen Decke ließen sich fledermausartige Vampirwesen herab, dazwischen haarige Spinnen, so groß wie Katzen. Ein infernalisches Dröhnen klang in einem verrückten Rhythmus von den Wänden, als benutzten die Geschöpfe einer anderen Dimension sie als Trommeln und lebten ihren Zorn und ihren Hass daran aus.
Formlose Schleimwesen krochen über die Möbel und Gegenstände, auch über die Tassen und Teller, aus denen man ihr zu trinken und zu essen gab. Die Spinnen befestigten ihre Netze an ihr und krochen daran auf und ab. Durch maulähnliche Öffnungen in den Wänden spritzten die unterschiedlichsten Substanzen in den Raum. Mal war es Speichel, mal Staub, mal stinkende Friedhofserde oder die saure, verdorbene Milch siechender Kühe und Ziegen.
Kleine, gnomenhafte Geschöpfe liefen auf ihrem Körper herum, krochen ihr bis in den Mund, klopften mit winzigen Meißeln Löcher in ihre Zähne, zerschnitten ihre Zunge oder erkundeten ihren Rachen, bis sie zu ersticken glaubte. Sie bearbeiteten ihren Körper wie ein Feld, das zu bestellen war, pflanzten Setzlinge furchtbarer Gewächse in ihren Nabel, unter ihre Achselhöhlen und zwischen ihre Beine.
Manche dieser Plagegeister verschwanden, wenn Menschen den Raum betraten, um ihr durchgeschwitztes Nachthemd zu wechseln, ihr zu trinken zu geben oder Medikamente zu verabreichen. Andere blieben, wo sie waren, betrachteten mit höhnischem Lachen die sinnlosen Bemühungen, die Qualen des Mädchens ein wenig zu lindern.
Wie konnte man jemandem helfen, der in die Hölle gefallen war?
7
Gegenwart
Es war eine trostlose kleine Trauerfeier gewesen.
In der katholischen Kirche St. Laurentius in Wolfach hatten die Studenten und Dozenten Falkengrunds symbolisch Abschied von Sanjay Munda genommen. Zu ihnen gesellte sich der Freudenstädter Hauptkommissar Dirk Fachinger, der zugegen gewesen war, als sie starb.
Ein rein symbolischer Abschied war es deshalb, weil sich die sterblichen Überreste der jungen
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