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Falkengrund Nr. 32

Falkengrund Nr. 32

Titel: Falkengrund Nr. 32 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Abdrücke von Händen oder Füßen erinnerten, und manchmal an Gesichter. Wenn man sie genauer ansah, verschwand die Ähnlichkeit, doch sobald sie in die Augenwinkel zurückwichen, war sie wieder da. Er konnte kaum glauben, dass sein Herz wie wild pochte, aber genau das tat es. Vermutlich war dies erst der Anfang. Eine weitere Treppe schloss sich an, führte weiter nach oben, in den zweiten Stock also. Würde die Endstation der Dachboden sein? Der Raum mit dem winzigen Fenster? Wie kam man wieder hinunter? Bisher war ihm niemand entgegengekommen, also musste es auf der anderen Seite noch mehr Treppen geben. Bei diesem schmalen Haus war dies kaum vorstellbar.
    Irgendwo über ihm schrie Meyer kurz auf.
    „Alles klar?“, rief Kostlek. Er erhielt keine Antwort. Seine Finger kramten zitternd nach dem Tütchen mit dem Tabak und den Zigarettenpapierchen in der Brusttasche seiner Winterjacke. Dann steckte er alles wieder zurück. Er konnte sich unmöglich an diesem Ort ein Stäbchen drehen.
    Der zweite Stock war … böse.
    Die Tapeten an den Wänden waren herabgerissen, unter ihnen kamen merkwürdige hölzerne Verschläge zum Vorschein, die teilweise verschimmelt waren, teilweise zersplittert, als wäre hinter ihnen etwas explodiert oder hervorgebrochen. Die Bodendielen knarrten, und wenn man auf bestimmte Bretter trat, schienen sich die Wände dezent zu verbiegen. An der Decke flackerte eine Glühbirne mit der Unstetigkeit einer Kerze im Sturm. Das war alles nicht schlimm, aber es rüttelte an den Nerven, und Kostlek wünschte sich von Herzen eine an einem Gummiband herabpendelnde Plastikfledermaus. Stattdessen bildete er sich ein, hinter den ramponierten Holzwänden schleiche etwas oder jemand umher. Ein unsichtbares Augenpaar schien ihn zu beobachten. Ich lasse sie alle laufen , schien ein Flüsterer im Dunkeln zu wispern, nur jeden Zehntausendsten schnappe ich mir. Glückwunsch, denn du bist auserwählt. Du bist das zehntausendste Kondom. Jenes, das reißt. Gerissen wird. Von mir.
    In seinem Leben hatte er sich nie so sehr eine Zigarette gewünscht. Manchmal hatte er eine fertig gedrehte in der Tasche, doch so viel Glück war ihm nicht beschieden. Zum zweiten Mal zog er die Papierchen heraus – und ließ sie fallen. Er ging in die Hocke, damit er das kleine Päckchen auflesen konnte, ohne den Blick von der geborstenen Wand vor ihm nehmen zu müssen. In der Dunkelheit dahinter schien es einen riesigen Hohlraum zu geben. Von den Ausmaßen des Hauses her konnte das gar nicht sein! In dem Hohlraum kroch ein unsichtbares, lautloses, geruchloses Wesen herum, das alle seine Sinne ignorierten. Nur der Bauch, der sagte ihm, dass es da war.
    „Du bist ein verdammtes altes Weib!“, meckerte er sich an. Mit den Papierchen in der Hand stand er wieder auf. Wo war Freiling? Musste er nicht allmählich auf ihn auflaufen?
    In diesem Moment wurde das Wesen sichtbar, für den Bruchteil einer Sekunde nur. Es geschah, während er noch im Begriff war, sich aufzurichten.
    Es war ein Clown, verzerrt grinsend, mit weißer Glatze und leuchtend blau lackierten Lippen. Seine dunklen Augen erinnerten frappierend an das Dachfenster, und ihm haftete etwas vollkommen Schreckliches an, ganz, als wäre er kein verkleideter Mensch, sondern nichts als ein Clown, durch und durch. Aus den Ärmeln seiner bunten Bekleidung rieselte Sand kaum hörbar auf den Boden herab.
    Kostlek wollte etwas sagen, doch er verschluckte sich an seinem eigenen Speichel und hustete. „Wer … wer …?“, würgte er hervor.
    „Ich bin der Sandmann“, erwiderte die Stimme. Mehr nicht. Und als sie aufklang, war das Bild in der Dunkelheit bereits verschwunden. Das Knirschen von Sand unter Schuhsohlen wurde hörbar. Den Geräuschen nach zu urteilen, bewegte sich der Unheimliche direkt auf ihn zu – doch zu sehen war nichts.
    Kostlek warf die Zigarettenpapierchen weg und rannte los, in Richtung Ausgang. Nur, wer garantierte ihm, dass es einen Ausgang gab? Garantiert war nur die Gänsehaut, nicht wahr? Er rannte den Gang hinunter, bemüht, nicht gegen die Wände zu driften und sie nicht einmal zu berühren. Es war ihm, als gleite er immer wieder auf einer dünnen Sandschicht aus.
    Als er am Ende des Flurs stand, eine weitere Aufwärts-Treppe vor sich, tat er, was Ammenmärchen und Schauergeschichten ihm tausend Mal verboten hatten. Er drehte sich um, blickte hinter sich.
    Von dem Sandmann war nichts zu erkennen, aber Kostlek sah etwas viel Furchtbareres. Am Ende des Flurs war

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