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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Länge gezerrten Züge der Frau wirkten wie die einer afrikanischen Maske, und die glänzende Schweißschicht auf dem Gesicht trug noch zu diesem Eindruck bei. Emil wusste, dass er diesen Anblick nicht vergessen würde, selbst wenn er hundert Jahre alt wurde. Gleichzeitig wurde ihm mit gnadenloser Klarheit bewusst, dass das Schicksal diese Möglichkeit nicht für ihn vorgesehen hatte.
    Er warf den Kopf zur Seite, als die Auswüchse auf ihn zu sprossen. Sie trafen seine Schläfe, sein Kinn, seinen Hinterkopf, und ein unmenschlicher Schmerz brannte sich an diesen Stellen in ihn ein. Die Tentakel drangen durch seine Haut, durch sein Fleisch, durch seine Knochen! Er brüllte, nicht nur vor Schmerz, sondern auch aus Empörung. Das durfte nicht geschehen!
    Verfremdet nahm er eine Stimme wahr. „Was ist das? Was ist das?“ Immer wieder dieselbe Frage. Die Stimme gehörte seinem Vater. Emil wünschte sich, er würde damit aufhören und ihm stattdessen zu Hilfe kommen. Es war der letzte Wunsch in seinem kurzen Leben, und er blieb unerfüllt.
    Das Monster in Amonke tötete ihn.
    Sein Blut floss auf der Schwelle des Zimmers und weit hinaus in den Flur. Menschen kamen herbeigerannt, gewahrten seine Überreste und ergriffen dann die Flucht.
    „Einen Schamanen!“, brüllte einer der Afrikaner. „Wir brauchen einen Schamanen!“
    Amonke oder das, was sie steuerte, verließ das Haus. Als die Frau aus der Villa schwankte, hatten sich die Tentakel, die ihr Magen waren, vollständig in sie zurückgezogen. Blut lief an ihren Lippen hinab, doch der Regen wusch ihn ab. Sie hatte mehrere Zähne verloren bei dem Versuch, den Mund zusammenzupressen und das Ungetüm nicht herauszulassen. Der Krake hatte die Zähne einfach von innen hinausgestoßen. Hustend und keuchend stolperte sie ins Freie, benötigte Minuten, um das Gartentor zu öffnen.
    Sie brauchte keine Zähne mehr. Sie aß nicht mehr, nicht wie andere Menschen. Ihr Magen war eine mörderische Bestie, und wenn er Hunger hatte, kroch er durch ihre Speiseröhre und holte sich etwas.
    Vielleicht war das einfacher so.
    Vielleicht hatte das menschliche Gehirn den Magen zu lange versklavt und unterdrückt.
    Amonke wischte sich das Blut ab. Auf dem Grundstück der Eksons standen mehrere Personen, weiße und schwarze, und sahen ihr nach. Niemand hatte den Schneid, sich mit ihr anzulegen. Dabei wäre sie jetzt leicht zu besiegen gewesen, jetzt, wo ihr Magen satt war und sich in die Tiefen ihres Bauches verkrochen hatte.
    „Ich muss das beenden“, krächzte Amonke, als sie eine Stunde später durch die Gassen von Lagos irrte. „Ich muss wissen … wissen, was ich … bin.“

5
    Das Ifa war eine Angelegenheit ohne großes Brimborium. Ein rundes Brett bildete die Bühne, auf dem sich das Orakel zeigen würde. Es war handlich, aus dunklem Holz gefertigt und wies am Rand grobe Schnitzereien auf – oben das Gesicht des Gottes, der vor dem Beginn des Orakels mit einem kleinen Stöckchen herbeigerufen wurde, daneben im Kreis stilisierte Krokodile, Schlangen, Löwen, andere Tiere. Auf den flachen Bereich in der Mitte des Tabletts streute der Babalawo ein feines Pulver. Es diente ihm für Notizen. Sechzehn schwarze Koka-Nüsse waren die Hauptdarsteller des Stücks. Der Babalawo schüttete sie spontan von einer Hand in die andere und zählte die Nüsse, die dabei in der Hand zurückgeblieben waren. Lautete die Zahl eins oder zwei, so schrieb er ein oder zwei Striche in das Pulver auf dem Brett. Dies setzte er so lange fort, bis er zweimal sechzehn Ergebnisse vorliegen hatte. Die Kombination daraus ergab eine der 256 möglichen Antworten des Orakels. Diese Antworten hatte jeder Babalawo zu Beginn seiner Ausbildung auswendig gelernt. Zu jedem Muster konnte er Gedichte aufsagen, Sprichwörter anführen und Geschichten erzählen. Sie waren niemals schriftlich fixiert worden, wurden bis zum heutigen Tag mündlich von Babalawo zu Babalawo weitergegeben.
    Eweji trug der Tradition gemäß einen perlenverzierten Gürtel um den hageren Leib. Er saß vor seiner Hütte auf der gelben Erde, und ein Pulk von Schaulustigen hatte sich um ihn und seinen Enkel Enene geschart. Selbst der Junge, der wenig vorher die Flucht ergriffen hatte, wagte sich wieder heran.
    Enene, der selbst kein Babalawo war, betrachtete fasziniert das schlichte Hin und Her der Koka-Nüsse. Das feine Klacken hypnotisierte die Zuschauer. Wirkten die Bewegungen seines Großvaters zunächst noch kantig, so wurden sie nach den ersten

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