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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Enene, und sein Gegenüber blieb ruckartig stehen, zwei Meter von ihm entfernt. „Ich komme nicht, um deinen Gott anzubeten.“
    Ein Schatten legte sich auf die Augen des Geistlichen. „Ja. Das hätte ich wissen müssen.“ Der Pater hatte die dominanten, ausdrucksstarken Lippen seines Sohnes, doch sie wirkten müde, und anstelle von Enenes kantig geschnittener Kinnpartie fanden sich schlaff herabhängende Fettwülste.
    „Ich komme aus Lagos“, erklärte der Besucher. „Dort stellte ich einige Nachforschungen an. Wärst du schwerer zu finden gewesen, hätte ich es aufgegeben. So elementar erschien es mir nicht.“ Die Kälte, die aus seinen Worten sprach, tat ihm selbst weh, aber es war sein gutes Recht, so mit dem Menschen zu sprechen, der seine Vaterpflichten verletzt und ihn mit seiner Mutter sitzen gelassen hatte. Es gab keinen Grund, ihm zu vergeben. Die Christen maßen dem Vergeben eine viel zu große Bedeutung bei. Es hatte seinen Platz in der Welt, gewiss, aber eine gerechte Strafe war wichtiger.
    Pater Simon machte die letzten Schritte und streckte beide Hände aus. Enene ergriff sie nicht, und nach einer Weile ließ der Geistliche sie wieder sinken. „Du bist also gekommen, um mir zu zeigen, wie sehr du mich nach all den Jahren noch hasst. Das glaubst du zumindest. Vielleicht hast du ja eine andere Mission, eine, von der du noch nichts ahnst. Könnte nicht der Herr dich hierher geleitet haben? Ist es nicht Gottes Wille, dass wir uns versöhnen? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“
    Enene winkte ab. Wenn ihn etwas auf die Palme brachte, dann war es, wie manche dieser Christen jede Aussage mit einem altklugen „Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“ beendeten. Er spürte, wie sich seine Fäuste ballen wollen, aber er ließ es nicht zu. Seine Verbitterung durfte er sich anmerken lassen. Unbeherrschtheit war keine Tugend für einen Yoruba. Und schon gar nicht für einen Schamanen.
    „Gibt es einen Ort, an dem wir ungestört reden können?“, fragte er.
    Sein Vater hob die Schultern. „Wir stehen mitten in einem solchen Ort. Oder stört dich der dort?“ Er nickte zu dem Kruzifix aus weißem Granit hinüber, an dem ein moderner, beinahe kubistischer Jesus hing und mit eckigen Augen unendlich traurig in eine Welt hineinblickte, die er nicht zu verstehen schien. Die Kirche strahlte Kühle und Klarheit aus. Sie erweckte den Eindruck, als könne man durch ihre Wände hindurch in ein helles, erfrischendes Himmelreich sehen, wenn man nur das richtige Passwort im Kopf hatte. Vier hübsche Kirchenfenster erzählten in sanftem Babyblau vom Sturm auf dem See Genezareth. Die Menschen, die hierher kamen, machten eine grundlegend andere religiöse Erfahrung als diejenigen, die einen Yoruba-Schamanen konsultierten. Hier gab es nichts, was an Erde und Schmutz, an Blut und Schweiß gemahnte.
    „Schatten“, begann Enene und behielt dabei den Stein-Christus im Auge. „Schwarze Schatten, ruckartige Bewegungen, als wäre ihr Zeitablauf ein anderer, auf den Köpfen gewaltige Geweihe wie von Hirschen. Sagt dir das etwas?“ Als Enene den Blick wieder auf seinen Vater richtete, hatte dieser sich kaum bewegt. Aber etwas anderes hatte sich verändert, in seiner Umgebung. Was war es?
    Pater Simon legte beide Hände an ein silbernes Kruzifix, das ihm um den Hals hing. Seine Finger zitterten. „Horden der Hölle“, entgegnete er unnatürlich schleppend, und dann, mit großem Interesse: „Wo hast du sie gesehen?“
    „Sie sind in Europa. Aber auch hier.“ Enene kam eine Idee. Hatte der Mann mit dem Hutzelgesicht nicht behauptet, Pater Simon sei sehr beschäftigt? War es möglich, dass es ausgerechnet die Schatten waren, die ihn so in Anspruch nahmen? Musste die Kirche nicht reagieren, falls sie von ihnen wusste?
    „Hast du sie gesehen?“, erkundigte sich Enene.
    Der Pater ging mit langsamen, steifen Schritten durch die Kirche, und sein Sohn war genötigt, ihm zu folgen. Jetzt fiel ihm auf, was sich vorher verändert hatte. Der Mann mit dem zerknitterten Gesicht war näher an den Pater herangerückt, und nun schritten sie zu dritt durch das strahlend weiße Gotteshaus.
    „Ich habe den Film gesehen“, antwortete Pater Simon. „Blacker than Black. Man entgeht ihm nicht. Die ganze Gemeinde spricht davon.“
    „Er beunruhigt dich?“
    „Ja, er beunruhigt mich. Aber der Herr wird uns beschützen.“ Sie kamen an dem traurigen Jesus vorbei, und Enene fragte sich zum tausendsten Mal in seinem Leben, was es

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