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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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umgedreht, er wurde nach oben weggeschleudert.
    Die Richtungsänderung erfolgte so jäh, dass er das Bewusstsein verlor.

5
    Enene träumte.
    Davon, einen Orisha gesehen und berührt zu haben.
    In der Mythologie der Yoruba gab es neben den lebenden Menschen noch die Seelen der Toten, die man Egun nannte. Außerdem glaubte man an Orishas , was man mit den Begriffen „Gott“ oder „Engel“ übersetzen konnte. Sie vermittelten zwischen den Menschen und dem großen Schöpfergott, der kein Interesse mehr an seiner Schöpfung zeigte.
    In seinem Traum erkannte Enene, dass die Schatten nicht nur Menschen entführten. Dass sie auch einen Weg kannten, die Geister aus dem Jenseits zu holen. Er hatte mehr als nur einen Egun gesehen, oben, in der alten Halle, Nebelschleier, die, durch elektrische Felder geleitet, von einer Maschine zur anderen irrten, auf elende Weise durch Technik versklavt. Und Enene wusste, dass es den Schatten gelungen war, mit ihren Maschinen sogar einen Orisha einzusperren. Er lag in Ketten aus violetter Energie, viele Meter unter der Erde, am untersten Ende des Schachtes.
    Wenn ein Mensch mit dem Orisha zusammentraf, wurden offenbar gewaltige Kräfte frei, die in diesem Energiegefängnis zu einer Explosion führen konnten. Schon einmal musste dies geschehen sein und ein Loch in die Wand der Fabrik gerissen haben. Dabei war Bruder Quirinius freigekommen, vielleicht auch die tentakelspuckende Frau, der er in einem Kino in Lagos begegnet war, und andere.
    Das bedeutete also, die Schatten versuchten alles zu beherrschen: Die Menschen, die Geister und die Götter. Und sie hatten die Macht dazu.
    Mit diesem Gedanken erwachte Enene.
    Er befand sich nicht mehr in dem Schacht, nicht mehr im Inneren der Fabrik. Er lag unter freiem Himmel. Sein Körper schmerzte, aber es waren nicht die Schmerzen, die er in der Nähe der Schatten gelitten hatte. Es waren Prellungen, stumpfe Wunden, die er sich bei einem Sturz zugezogen hatte.
    „Du bist regelrecht herausgeschleudert worden“, sagte eine Stimme. Ruckartig drehte Enene den Kopf und zuckte zusammen, als es ihm in den Nacken fuhr. Eine Hand legte eine Wasserflasche an seinen Mund, und er trank. Die Hand gehörte Omoba. „Wir werden sehen, ob du transportfähig bist. Ich bin ziemlich sicher, dass du dir etwas gebrochen hast. Hoffen wir, dass es nicht das Rückgrat ist. Deine Beine scheinst du bewegen zu können.“
    Omoba streichelte seine Kalaschnikow. In seinem Mundwinkel klebte schon wieder eine Selbstgedrehte. „Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen. Früher oder später werden die Schatten herauskommen und uns beseitigen, schätze ich. Und dann wird uns ein Gewehr nicht viel nutzen.“
    „Und warum sind wir dann noch hier?“, krächzte Enene. „Ich kann gehen.“ Er versuchte sich aufzurichten, aber es misslang, und er sank stöhnend wieder zu Boden.
    „Lass dir Zeit“, sagte Omoba. „Ich gehe ohnehin nicht ohne sie von hier weg.“
    „Wer ist sie ?“
    „Rupe. Sie ist auch rausgekommen. Ich habe sie gesehen. Sie versteckt sich irgendwo in einem der Wäldchen und leckt ihre Wunden. Irgendwann wird sie sich schon zeigen. Und dann müssen wir sie irgendwie einfangen.“ Omoba lächelte schief. „Oder willst du eine solche Frau an einem solchen Ort zurücklassen, du gefühlloser Kerl?“

    ENDE DER EPISODE

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Nr. 65 -

Im Herzen des Todes

1
    Am meisten erschreckte sie, dass sie sich selbst nicht erkannte. Sie hatte ihren eigenen Namen vergessen, aber nicht nur das – sie wusste nicht mehr, woher sie kam, was sie tat, was sie mochte oder hasste, was für ein Mensch sie war. Gewesen war. Sie konnte sich nicht an ihr eigenes Gesicht erinnern, und wenn sie ihre Hände vor ihren Augen drehte und die Finger bewegte, dann waren es die Glieder einer Fremden.
    Falls sie überhaupt etwas wusste, dann nur dieses eine: dass sie tot war.
    Das war keine Befürchtung, sondern mächtige, zweifelsfreie Gewissheit, und diese Gewissheit beherrschte sie. Als wäre dieser eine Gedanke so essenziell, dass er alles andere überdeckte. Überschrieb. Der Tod war ihr neuer Name, ihre neue Identität, ihr neues Gesicht. Alles, was sie einzigartig gemacht und von anderen Menschen unterschieden hatte, war zurückgeblieben in dem anderen Land namens Leben. Sie hatte alles dort zurückgelassen.
    Dann war diese Welt … das Jenseits?
    Sie sah sich um, hatte sich die ganze Zeit über schon umgesehen. In einer engen Gasse kauernd war sie zu sich gekommen. Die Gasse

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