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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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war wie eine Spalte in einem Berg, und zu beiden Seiten wuchsen graue, fensterlose Bauwerke in die Höhe. Verloren sich in grauem Dunst. Ob es dort oben irgendwo einen Himmel gab, hätte sie nicht sagen können. Als sie auf die Füße kam, fühlte sie sich leicht an. Ihr Körper schien voller Energie. Vielleicht lag es daran, dass sie tief geschlafen hatte und ausgeruht war wie nie zuvor, vielleicht hatte es auch mit den Gesetzen dieser Welt zu tun. Eine geringere Schwerkraft?
    Sie begann zu gehen, und es fühlte sich gut an. Natürlich war es noch zu früh, um so etwas zu wissen, aber es schien, als würde sie niemals müde werden. Es blieb ihr nichts anderes übrig – sie musste der Gasse folgen, ob in die eine oder in die andere Richtung, das spielte vermutlich keine Rolle. Der Boden war asphaltiert und angenehm kühl. Sie trug nicht viel am Leib, nur ein weißes Tuch, das um ihren schlanken Körper geschlungen war. Während sie lief, kam ihr der Gedanke, sie könne alleine in dieser Welt sein – vielleicht war im Jenseits jeder alleine, und dies war ihre persönliche Stadt.
    Ein trister Ort. Menschenleer, aber voller gewaltiger sinnloser Gebäude, die man vermutlich nicht einmal betreten konnte. Gewiss kein Garten Eden.
    Alle anderen Gedanken, die die Vision absoluter Einsamkeit mit sich brachte, kämpfte sie nieder. Wie es sich wohl anfühlen würde, bis in alle Ewigkeit alleine durch eine verlorene Welt aus grauem Beton und Asphalt zu irren. Wann sie wohl den Verstand verlieren würde, und wie sich die Situation danach anfühlen mochte. Solche Gedanken.
    Die Gasse wenigstens war nicht unendlich. Sie führte auf einen großen Platz, wie man ihn in alten Städten vor Palästen oder Regierungssitzen vorfand. Dort, wo bei einem Schlossplatz Skulpturen von römisch-griechischen Göttern oder längst verstorbenen Staatsmännern gestanden hätten, ragten hier grobe Steinquader in die Höhe, Monolithen, glatt und regelmäßig, ohne Inschrift, ohne Ornamente. Anonyme Grabsteine für ganze Menschenmassen?
    Einen Palast gab es auch, falls man den gewaltigen Steinklotz so nennen konnte, der auf der anderen Seite des Platzes prangte und ihr eine schmucklose graue Frontseite zuwandte. Zumindest Fensteröffnungen gab es – Hunderte davon, die meisten klein und in Dutzenden gleichförmiger Reihen, dazwischen einige riesengroße Fenster, die offenbar Glasscheiben aufwiesen, den schwachen Reflexionen nach zu urteilen. Und Türen, nein, Türöffnungen in Abständen von hundert Metern oder mehr.
    Vor allem aber befanden sich Menschen auf dem Platz, zehn oder zwölf vielleicht, sie verliefen sich auf der riesigen Fläche. Jeder schien mit sich beschäftigt zu sein, keiner zeigte Interesse, mit den anderen zu kommunizieren. Ein oder zwei blickten kurz in ihre Richtung und wandten sich rasch wieder ab. Sie schienen etwas in ihren Händen zu halten, Notizblöcke vielleicht, in die sie etwas kritzelten.
    Sie stellte sich vor, dass es tausende solche Orte in dieser Welt gab, tausende Plätze und Paläste, die sich ins nichts voneinander unterschieden außer vielleicht in der Zahl der Fensterreihen. Das Jenseits war eine anonyme, gesichtslose Welt, und die Seelen der Verstorbenen waren zu Autisten geworden, die emotionslos durch die ewig gleich aussehenden Straßen streiften und über ihr nicht vorhandenes Leben minutiös Tagebuch führten.
    So sah es für sie aus.
    Ein unbeschreibliches Grauen sickerte in ihre Seele, ein nihilistischer Schrecken, die Angst vor dem Nichts und der Leere. Wenn das Jenseits so war, dann war der Tod ein furchtbares Unheil, das Tor zur ewigen Verdammnis.
    Und dieser Gedanke trug sie einen Schritt weiter in ihrem Grauen, nämlich genau bis zur nächsten Schlussfolgerung: Sie musste an einem entscheidenden Punkt einen Denkfehler begangen haben – wenn diese Welt tatsächlich eine Welt der Einsamkeit und Sinnlosigkeit darstellte, dann war sie vielleicht gar nicht „das Jenseits“, an das sie gedacht hatte, das Gegenstück zum Diesseits. Dann war dieser Ort vielleicht etwas viel, viel Schlimmeres.
    Eine kühle, flammenlose Hölle.

2
    Sie näherte sich einer der Personen, einem Mann in fortgeschrittenem Alter. In seinem Gesicht prangte eine dicke Schnapsnase, und die schmalen Lippen hatten einen violetten Ton. Wie alle anderen trug auch er das einer Toga ähnliche Tuch. Nun, da sie sich ihm näherte, betrachtete der Mann sie mit einer gewissen Neugier. Seine Blicke pendelten sich auf ihren Busen ein und

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