Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
wirklich dein Enkel?“
    „Liegt Taubheit in deiner Familie? Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?“
    „Ich habe es gehört. Falls er ein Hexer oder ein Gestaltwandler ist, darf ich dann zusehen, wenn du ihn tötest?“
    „Falls er mit deinem abgenagten Skelett unter dem Arm in meine Hütte kommt, weiß ich, dass er gefährlich ist. Dann töte ich ihn.“
    Der Junge sprang auf und floh mit einem wirren Gewusel seiner langen, dünnen Arme und Beine aus der Hütte des Schamanen. Am Ausgang verfing er sich mit den Füßen in der Decke, die er selbst herabgerissen hatte, stolperte, befreite sich und rannte weiter. Eweji wartete. Die Kräuter im Kessel hatten der Brühe einen erdigen Farbton gegeben, als ein großer Schatten auf die Hütte fiel.
    „Vergib mir, Großvater“, sagte eine dunkle, gedämpfte Stimme. „Der Junge, der mich anmelden wollte, kehrte nicht wieder zurück. Also kam ich alleine.“
    „Du wurdest angemeldet, Enene“, erwiderte der Alte. Er drückte seinen greisen Körper mühsam, aber ohne einen Laut in die Höhe. Den Kessel mit den Kräutern schob er mit dem Fuß zur Seite. Das Innere der Hütte war ein Chaos aus tausend verschiedenen Gegenständen. Der Fußboden blieb weitgehend frei, doch Wände und Decke waren mit Wurzeln, Samen, Tüchern, Seilen, Perlen, Gefäßen und zahllosen anderen Dingen behangen. Es war Winter, die Zeit des trockenen Saharawinds Harmattan , und wenn die Böen in die Hütte bliesen, klirrte und knackte und rasselte es überall.
    Enene trat gebeugten Hauptes ein. „Ich hoffe, ich komme zu einer guten Zeit.“
    Eweji sah ihn aus schwachen, gelblichen Augen an. „Gibt es in der Wüste eine ungünstige Zeit für einen Regenguss?“, antwortete er. „Ich wusste, dass ich dich in dieser Welt noch sehen würde. Aber wer verriet mir, dass es heute sein würde? Das Orakel wollte mich überraschen. Also ist heute ein Freudentag.“
    Der Enkel überragte seinen Großvater um gut zwei Köpfe. Die beiden Männer streckten sich die Hände entgegen und verharrten einige Minuten stumm in der Berührung.
    „Du bist schwach geworden“, sagte Eweji unvermittelt. „Das Ache in dir ist ins Stocken geraten.“
    „Ich war untätig“, erwiderte Enene. „Habe beobachtet, anstatt zu handeln.“
    „Das Ache wächst durchs Handeln, nicht durch tatenloses Zusehen.“
    „Ich weiß. Deshalb bin ich hier. Es scheint, dass die Zeit zum Handeln gekommen ist.“
    Enene und Eweji, der Vater seines Vaters, waren Yoruba. Dieses Volk lebte hauptsächlich im Südwesten Nigerias, und obwohl die meisten Yoruba heute zum christlichen Glauben bekehrt worden waren, hatten sie ihre alten religiösen und magischen Überzeugungen nicht abgeworfen. Zu diesen Vorstellungen gehörte zum Beispiel der Glaube an den Schöpfergott Olodumare , an die Götter Orisha , an die Ahnengeister Egun und vieles andere. Ein wichtiger Begriff aus der Yoruba-Religion war das Ache , die Energie, die vom Schöpfergott kam. Sie floss in lebenden Wesen und toten Dingen, und sie wurde durch Aktion verstärkt und durch Untätigkeit und Stagnation geschwächt. Der Yoruba-Glaube gehörte zu den komplexesten Religionen der Welt. Durch den Sklavenhandel war er längst nicht mehr nur in Westafrika ansässig, sondern hatte sich nach Süd-, Mittel- und Nordamerika ausgebreitet. Dort verschmolz er mit anderen Glaubenssystemen und trug verschiedene Namen. Am bekanntesten war eine Vermischung aus Yoruba und katholischem Christentum, die in Brasilien und in der Karibik populär war. Man nannte diese Religion Santería – in ihr waren die Orishas der Afrikaner mit den katholischen Heiligen gleichgesetzt worden. Auch der Voodoo auf Haiti war indirekt davon beeinflusst. Nicht wenige Wissenschaftler verlangten, den Yoruba-Glauben endlich zu den großen Weltreligionen zu zählen, doch das würde niemals geschehen. Den dunklen Aberglauben der afrikanischen „Wilden“ in einem Atemzug mit Christentum, Islam und Buddhismus zu nennen – so etwas würden die Herren Wissenschaftler aus den zivilisierten Nationen niemals zulassen.
    Der Alte setzte sich, und nach ihm nahm auch der jüngere Mann auf dem festgetretenen Erdreich Platz. Eweji atmete drei Mal tief durch, dann erkundigte er sich: „Was ist das für ein Ort in Europa, an dem du dich aufgehalten hast?“
    „Es ist eine Schule. Eine Art Schule für Schamanen.“
    „Eine Schule für Schamanen!“ Eweji klatschte mit der Hand auf den Boden. „So etwas können sich nur Europäer

Weitere Kostenlose Bücher