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Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Wer bist du? Was hast du auf dem Herzen?“
    Niemand meldete sich. Die Kampfgeräusche schwollen an und ab, immer wieder, ohne dass sich etwas entwickelt hätte. Vorsichtig näherte sich Sir Darren wieder dem Ufer, ging mit knackenden Gelenken in die Hocke und legte seine Hände ins Wasser. Es war eiskalt. Als sich die Situation minutenlang nicht veränderte, schöpfte er mit der Hand etwas Wasser aus dem See und benetzte seine Lippen damit.
    Im selben Moment raste ein Bild aus dem Nebel auf ihn zu, ein lebendiges dreidimensionales Bild. Er zwang sich dazu, nicht zurückzuweichen. Das Bild legte sich um ihn herum wie eine Decke, in die man einen Frierenden hüllte. Doch es brachte keine Wärme, nur mehr von der eisigen Kälte, die im See herrschte.
    Es war eine Unterwasserszene, und Sir Darren hatte das Gefühl, selbst im Wasser zu schweben. Zwei Menschen waren in der klaren, halbdunklen Tiefe zu sehen, ein Mann und eine Frau, beide noch jung und in lange Gewänder gehüllt, die nun geisterhaft im Wasser schwebten. Die beiden waren an den Händen und an den Füßen aneinandergefesselt. Kräftige Stricke waren mehrmals um je einen ihrer Unterarme gewickelt und miteinander verknotet worden. Die anderen Arme waren frei – sie hatten sich selbst gefesselt! Sie sahen sich an, ihre Lippen zusammengekniffen, ihre Augen voll von einem entschlossenen und zugleich furchtsamen Ausdruck, der in dieser Mischung an Wahnsinn erinnerte. Sie klammerten sich aneinander und stießen sich wieder voneinander weg, machten verzweifelte Versuche, mit den freien Armen zu rudern, und hielten sich gegenseitig davon ab, wenn sie merkten, dass ihre Bemühungen fruchteten und sie nach oben trieben. Das lange dunkle Haar der Frau fächerte sich auf und umwogte sie.
    Sir Darren schlotterte unter dem Eindruck der Szene. Es konnte keinen Zweifel an dem Hintergrund dieses Geschehens geben: Zwei Menschen waren ins Wasser gegangen, um gemeinsam den Tod zu finden, und dieser Tod näherte sich ihnen nun mit großen Schritten. Welche schreckliche Vielfalt an Emotionen sie durchlebten, war für den Beobachter nur zu erahnen. Zweifel, Zaudern und neuerliche Tapferkeit im Angesicht ihres Endes malten sich auf ihren Gesichtern ab, doch ihre Erinnerungen und ihr Unglück blieb das Geheimnis ihrer Herzen.
    Die beiden küssten sich und sahen den Luftblasen nach, die dabei ihren Mündern entwichen. Sie blickten auch nach unten in die perfekte Finsternis hinein, die ihr Ziel war. Sir Darren wurde von der Dramatik und Tragik dieser Sekunden förmlich durchgeschüttelt.
    Dann, plötzlich, brach etwas Längliches von oben in die Szene herein, eine stabile, dunkle Stange. An ihrem Ende war ein doppelter Haken befestigt. Die Frau sah ihn kommen und versuchte den Mann zur Seite zu reißen, auf den er zuraste. Doch es war schwierig, ihn gegen den Widerstand des Wassers zu zerren, und der Haken traf ihn im Gesicht, glitt daran nach unten, und als die Stange zurückgezogen wurde, blieb die Spitze des Hakens unter seinem Kinn hängen und riss ihn ein Stück weit nach oben!
    Tintenschwarzes Blut strömte ins Wasser. Sir Darren konnte den Schrei hören, den die Frau unter Wasser ausstieß. Er sah auch, wie sie nach der Stange griff und wie es ihr irgendwie gelang, den Haken vom Kinn ihres Partners zu lösen. Doch wer immer auch die Stange führte – als das Gewicht verschwunden war, stieß er sie noch einmal hinunter. Diesmal bohrte sich das spitze Metall in die Handfesseln, die die beiden verbanden. Beim nächsten Aufwärtsruck wurde das aufgeweichte Seil zerfetzt, und der Unterarm des Mannes ebenfalls, denn ein neuer Blutstrom entlud sich in das Wasser des Sees, das nun trübe und brackig aussah. Sir Darren war es, als könne er den metallischen Blutgeschmack auf der Zunge schmecken.
    Als sie beide Hände frei hatte, zog die Frau die Beine an, um auch ihre Fußfesseln zu lösen. Ob sie es tat, weil es sie vor dem schwerverletzten Partner graute, der ohnmächtig im Wasser trieb und eine dunkle Flüssigkeit verströmte wie ein gewaltiger Tintenfisch, oder was sonst ihr in diesen Momenten durch den Kopf ging, wusste Sir Darren nicht. Sie hatte ohnehin keinen Erfolg. Die beiden blieben miteinander verbunden, und als der Haken ein weiteres Mal herabkam und sich in dem Korsett der Frau verfing, wurden sie beide nach oben gezogen.
    Sir Darren kniff die Augen zusammen und konnte die verwaschenen Konturen eines Kahns erkennen, dazu die Schatten zweier Männer, die sich nach vorne

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