Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 6 Tod in Kupfer

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 6 Tod in Kupfer

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 6 Tod in Kupfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
angesehen, nicht den Deckel. Für dich ist es wichtig, die Konstruktion eines Gegenstands zu durchschauen, nicht seine Oberfläche zu betrachten. Du wolltest wissen, ob er sich öffnen lässt. Wollest sein Inneres sehen.“
    „Ist ... ist das nicht die normale Herangehensweise?“
    „Für einen Mann vielleicht“, antwortete sie. „Wir Frauen sind da anders. Uns interessiert die Oberfläche. Hey, wir kaufen Autos nach der Farbe und Form der Karosserie und Computer nach dem Gehäusedesign. Sag bloß, das wusstest du nicht?“
    Jetzt scherzte sie und konnte es nicht verbergen. Aber Artur spürte, dass nicht alles, was sie gesagt hatte, ein Spaß gewesen war.
    Er ging in die Hocke und nahm sich den Deckel ein zweites Mal vor. Er versuchte sein Bestes zu geben und sich nicht zu fragen, ob die unbeweglichen Schrauben nun eingerostet, verlötet oder einfach nur fest zugezogen waren und ob es gelingen konnte, mit der Harke, die an der Wand lehnte, ein Loch in das Kupfer zu schlagen.
    Stattdessen konzentrierte er sich auf die glänzende Oberfläche des vollkommen glatten Deckels. Auch von hier sah ihm sein Spiegelbild entgegen, doch hier war es nicht auseinander gezogen wie in einem Zerrspiegel auf dem Rummelplatz. Der Deckel war eben. Der Artur, der sich in dem etwa fünfzig Zentimeter durchmessenden Rund spiegelte, war der Artur, den er kannte. Die Proportionen stimmten – lediglich die Gesichtsfarbe war ein metallisches Goldrot, und die starken Reflektionen ließen es aussehen, als bedecke eine Art Ölschicht seine Haut.
    „Okay“, murmelte er abwesend. „Ich sehe mich.“
    Das Mädchen war dicht neben ihm ebenfalls in die Hocke gegangen. Der Seifengeruch, der ihn heute Morgen am Frühstückstisch so betört hatte, war dem Duft ihres Körpers gewichen, doch dieser war nicht weniger angenehm. Verdammt, wie sollte er sich konzentrieren, wenn sie sich so nahe an ihn drängte? Ihre Schultern berührten sich.
    „Siehst du wirklich dich ?“, hauchte Melanie.
    In diesem Moment kniff er die Augen zusammen, denn er hatte für eine Sekunde den Eindruck gehabt, sein Spiegelbild habe sich bewegt. Anders bewegt als er. Es schien sich ein wenig aufgebläht zu haben, ohne dass er dem Deckel des Kessels nähergekommen war.
    Da war es wieder – das Gefühl, das etwas aus dem Inneren des Tanks an die Oberfläche kam. Einen Augenblick später war der Eindruck verschwunden. Sein Spiegelbild sah aus wie immer, und er hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob es größer war als es sein sollte.
    Es machte ihn unruhig.
    Der Tank war wie ein Schacht in einen kupferfarbenen See. Ein Schacht, bis an den Rand gefüllt mit dem metallischen Wasser, mit einer Flüssigkeit, die wie Quecksilber war, aber kupfern. Ein Schacht, in dem etwas zu ihm aufstieg, immer dann näher kam, wenn er einen Moment lang unaufmerksam war. Wenn Melanie ihn ablenkte.
    Doch nichts passte zusammen. Ein Schacht verlief nicht horizontal. Wenn dies die Oberfläche einer Flüssigkeit war, hätte diese auslaufen müssen.
    Was dachte er da eigentlich? Er betrachtete sein Gesicht angestrengt. Und wie es eben geschah, wenn man sich selbst lange Zeit ansah, wurde es ihm immer fremder und schien einem anderen zu gehören. Er konnte ein Leben in diesen gespiegelten Augen erkennen, etwas Waches, Kraftvolles – aber er hatte nicht das Gefühl, dass es ganz und gar zu ihm gehörte.
    „Weißt du, Artur, dass ich dich gernhabe?“
    „Was?“
    Er wollte sie ansehen, aber er konnte nicht. Sein Spiegelbild hielt ihn in einer Art Bann gefangen. Vielleicht war es nur die Angst, es könne sich weiter verändern, wenn er für eine Sekunde den Blick abwandte. Er blinzelte kaum mehr, und sein rechtes Auge begann zu tränen.
    „Ja, ich mag dich. Ich mochte dich, noch bevor ich dich zum ersten Mal sah.“
    „Wie ... wie ist das möglich?“ Er wusste selbst nicht, auf was sich seine Frage bezog. Er war ... verstört, hatte den Eindruck, dies alles nur zu träumen.
    „Kannst du dir das nicht denken? Das Gerücht von deinem Schutzengel. Alle sprachen davon, dass dein Schutzengel Madoka aus dem Fenster gestoßen hatte. Das war ... unbeschreiblich für mich. Du musst wissen, Artur, dass ich die einzige in der Schule bin, die an Schutzengel glaubt.“
    „Ja, ich ... weiß ...“ Ihre Ausführungen über das Thema lagen noch keine halbe Stunde zurück. Er erinnerte sich daran, aber es war, als erinnere man sich an Dinge aus einem anderen Leben. Was geschah mit ihm? Warum verlor er

Weitere Kostenlose Bücher