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Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken

Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken

Titel: Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schröder
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über die bedrückende Armut anderer Menschen nachgedacht. Und zu seiner Verteidigung konnte er auch nur ins Feld führen, dass er auf Falkenhof fast abgeschieden vom Rest der Welt gelebt hatte, wie in einem goldenen Käfig, und so gut wie gar nichts über diese Art von Elend erfahren hatte, die besonders hier in Paris so erschreckend deutlich wurde. Denn die Armut, die er von der Landbevölkerung rund um Falkenhof und von Mainz her kannte, ließ sich mit dieser nicht gleichsetzen.
    Mit genussvollem Schmatzen verschlang Gaspard ein Brot nach dem anderen und Tobias saß schweigend neben ihm. Immer wieder fiel sein Blick auf die Handprothese, dieses klobige Stück Holz mit dem Haken und dem gabelähnlichen Eisenstab daneben.
    »Was war das für ein Unfall?«, entfuhr es ihm plötzlich zu seinem eigenen Erschrecken. Seine Lippen hatten seinen Gedanken aufgenommen, ohne dass er es bewusst gewollt hatte.
    Gaspard warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Kein sehr angenehmer, das kannst du mir glauben«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen.
    »Entschuldige, ich – ich wollte nicht neugierig sein. Es ist mir einfach so rausgerutscht«, sagte er verlegen.
    Gaspard rollte die letzte Bratenscheibe zusammen, steckte sie in den Mund und leckte sich dann die Finger ab. »Liegt jetzt schon sechs Jahre zurück, der Unfall. Damals war ich glücklich dran. Ich hatte Eltern, ein Zuhause und eine richtige Arbeit. Ein guter Freund meines Vaters hatte mir Arbeit in einer Waffenschmiede verschafft und es ging uns gut. Zwei Zimmer bewohnten wir und wir brachten genug Geld nach Hause, dass wir zu essen hatten und im Winter abends sogar ein, zwei Stunden heizen konnten. Es war eine gute Zeit.«
    Gaspard schwieg einen Augenblick versonnen, als hätte er schon seit langem nicht mehr an jene Zeit gedacht, und Tobias saß still neben ihm und wartete.
    »Und dann«, fuhr er fort, »ja, dann passierte das, was Unzähligen täglich passiert, hier in Paris und anderswo: Das Pech hängt sich an einen wie eine Klette, die man nicht mehr loskriegt, ohne kräftig Haare zu lassen. Als meine Mutter eine Totgeburt zur Welt brachte und an Kindbettfieber starb, soff sich mein Vater ins Delirium und folgte ihr nicht lange hinterher. Ein halbes Jahr später passierte in der Waffenschmiede jener Unfall. Ein schlecht gefertigter Gewehrlauf zerbarst beim Probeschuss. Es war wohl auch zu viel Pulver im Spiel. Ich habe es nie genau erfahren. Ich fand mich nach der Explosion nur am Boden wieder. Ein Stück des Gewehrlaufes hatte mir die Hand weggerissen und ein Splitter war mir ins Auge gedrungen. Ich sah nur Blut. Man brachte mich ins Hotel Dieu, und dass ich da lebend wieder rausgekommen bin, ist das einzige Wunder meines Lebens.«
    Tobias wusste vor Betroffenheit nicht, was er sagen sollte. Und es überstieg sein Fassungsvermögen, wie Gaspard so ruhig darüber reden konnte.
    »Na ja, danach sah es natürlich bitter aus. Für einen verkrüppelten Jungen gibt es keine Arbeit. Damals hatte ich ja noch nicht mal diese Prothese. War nicht leicht, das Geld für dieses Ding zusammenzukratzen.«
    Tobias wagte nicht danach zu fragen, wie er das geschafft hatte. Doch er glaubte zu wissen, auf welche Weise er das Geld ›erworben‹ hatte.
    Gaspard schien seine Gedanken erraten zu können, denn er lachte nur spöttisch auf. »Nein, nicht wie du denkst. Ich habe mich nicht an fremder Leute Geldbörsen vergriffen. Dafür war ich damals noch viel zu jung und unerfahren. Ein Totengräber bot mir an, ihm nachts zur Hand zu gehen, wenn er Leichen aus den Massengräbern der Armen holte und sie an Medizinstudenten und junge Chirurgen verkaufte, damit sie sich mit ihren Skalpellen an ihnen üben konnten.«
    Tobias erschauerte. »Ist das wahr?«
    Gaspard sah ihn erstaunt an, als verstünde er wiederum nicht, dass Tobias von diesen Praktiken nichts wusste. »Und ob das wahr ist! Jede Nacht werden von den Friedhöfen Leichen gestohlen. Jeder weiß das. Und es ist ja auch so einfach. Die Armen werden in Reih und Glied in eine riesige Grube gelegt und nur mit einer dünnen
    Schicht ungelöschtem Kalk und Erde bedeckt. Zu Hunderten liegen sie da. Man muss nicht tief graben, um sie zu finden. Aber ich konnte es nicht und habe das Angebot abgelehnt. Ich habe meine Prothese mit Blei bezahlt.«
    »Blei?« Tobias war erleichtert, dass nicht länger von Leichenraub die Rede war.
    Gaspard nickte. »Ich bin nachts auf die Dächer gestiegen und habe da die Bleiverkleidungen gestohlen. Schon

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